II, Theaterstücke 11, (Reigen, 0), Reigen. Zehn Dialoge, Seite 904

11.
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box 18/2
Klose & Seidel
Bureau für Zeitungsausschnitte
Berlin NO. 43, Georgenkirchplatz 21
Zeitung: Berliner Lokal-Anzeiger
Ort:
Berlin
Datum:
9 Ma0
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Der Kampf um den „Reigen“
Vor((der Mittagspause, die bis 3 Uhr
eine Aufpeitschung der Sinne und habe mit Kunst
währte wurden in der Verhandlung gegen Direk¬
und Witz gar nichts zu tun. Er habe schließlich
olche „Schweinerei“ nicht mehr mitansehen
tion uns-Darsteller des Kleinen Schauspielhauses
können.
noch eine Reihe Belastungszeugen vernommen.
Der Theaterskandal.
U. a. der Bankbeamte Tschernanski. Er ist,
Bei vielen dieser Zeugenaussagen greifen die
wie er ausführt, nicht nach einer bestimmten Ver¬
R.=A. Heine und Justizrat Dr. Rosenber¬
abredung, sondern durch Zufall in jene Vor¬
ger sowie der Angeklagte, Direktor Sladek
wieberholt mit Verhaltungen an die Zeugen ein.
stellung gekommen, die durch den großen Radau,
Besonders wird vom R.=A. Heine immer wie¬
Werfen von Stinkbomben usw. gestört worden ist.
der festzustellen versucht, daß einzelnen von ihnen
Auch der nächste Zeuge, Bankbeamter Hitz¬
bekannt gewesen sei, daß der vielerwähnte The¬
mann, war auch in jener gestörten Aufführung.
aterfkandal am 22. Februar losgehen sollte und
daß sie aus diesem Grunde in das Theater ge¬
Er ist Mitglied des deutsch=völkischen Schutz= und
gangen seien. Der Verteidiger behauptet, daß die
Trutzbundes, ist aber nicht mit irgendeinem Auf¬
bei dieser Gelegenheit geworfenen Stinkbomben
trag des Bundes in die Vorstellung gegangen,
von den Plätzen ausgegangen sein müssen, wo
Er habe ja nach den Vorgängen in Wien damals
die Zeugen Platz genommen hatten. Die Zeugen
bestreiten, ihrerseits an dem Radau teilgenommen
wohl annehmen können, daß auch hier elwas
oder gar die Stinkbomben geworfen zu haben.
passieren würde. An der Art der Aufführung
R.=A. Heine bringt noch Einzelheiten über den
habe er nichts auszusetzen gehabt, desto mehr
Ausbruch des Theaterskandals und dessen Ver¬
aber an dem Stück selbst. Bei der Angabe ein¬
lauf zur Sprache. Zu den damals durch die Polizei
Verhafteten gehörte auch der Lehrer Siebert,
zelner Stellen, an denen der Zeuge Anstoß ge¬
der auf die Polizeiwache gebracht und 24 Stunden
nommen hatis, gab er anheim, die Oeffentlich¬
in Einzelhaft gehalten wurde. Der Zeuge hat
keit auszuschließen, da es ihm peinlich sei, hier¬
einen ekelerregenden Gindruck empfangen.

über zu sprechen. Der Antrag auf Ausschluß der
Auch Frau Hauptmann Müller, Mitglied des
Völkischen Schutz= und Trutzbündnisses,
Oeffentlichkeit wird vom Gerichtshof abgelehnt.
des
„Herold“, des „Aufrechten“, des Deutschen Offi¬
Der Zeuge hat u. a. Anstoß genommen an der
gierbundes, des Verbandes deutschnationaler Sol¬
Stelle, wo im Chambre séparée der Darsteller
daten usw. hat gewußt, daß am 22. Februar das
zum Abschluß dieser Szene laut ruft: „Kellner
Kleine Schauspielhaus ausgeräuchert werden
sollte, und ist auf ein selbst bezahltes Billet in
zahlen!“, auch hat er, der religiös sehr empfind¬
die Vorstellung gegangen, um zu sehen, „wie das
lich sei, Anstoß daran genommen, daß in der
deutsche Volk sich diesem Stücke gegenüber ver¬
Szene zwischen Schriftsteller und Schauspielerin
hält
*
im Zimmer auch ein Madonnenbild angebracht sei.
Direktor Sladek behauptet, daß diese Zeu¬
Einzelne Stellen seien für ihn furchtbar gewesen.
gin im Foyer großen Larm gemacht und mehr¬
fach geschrien habe: „Das verdanken wir diesen
Als junger Mann hätte er sich so eiwas ja ge¬
Judenbengels! Das wäre ja noch schöner, wenn
fallen lassen, aber jetzt in reiferen Jahren sei
wir uns so etwas gefallen lassen!“ usw. Die
das anders, denn jetzt denke er dabei an die Zu¬
Zeugin erklärt dies für unwahr, hält es aber
kunft seines Kindes, das allerdings erst vier
für durchaus begreiflich, daß sich das deutsche
Volk eine so bodenlose Schweinerei nicht mehr
Jahre alt sei. Das Stück sei doch zu realistisch
gefallen lasse. Auf Vorhalt gibt die Zeugin zu,
Zeugin Frau Doris Wittner hat weder bei
daß sie gestern ihre beiden 21= und 20jährigen
ihrem Besuch der Premiere noch gestern Aerger¬
Söhne unbefugt mit in die nichtöffentliche Vor¬
nis genommen, noch begriffen, wie an dem Werk
stellung genommen habe. Ihr #ltester Sohn sei
Anstoß genommen werden könne.
im Kriege Offizier gewesen, und beide
Der 72 jährige Kaufmann Köhne ist mit
Söhne, die doch zu der Generation gehören,
seiner Frau auf Verabredung mit anderen, die
die das Dentschland der Zukunft reprasentiect
einen Protest erlassen wollten, im August in eine
und deutsches Wesen und deutsche Ehre hochhalten
Aufführung des „Reigen“ gekommen.
Seine
soll, hätten ein lebhaftes Interesse daran gehabt,
Frau ist Vorstandsmitglied des Berliner Frauen¬
dieses Stück kennenzulernen, und sich sell#ein
wreins pegen den Alkoholismus. Die moralische
Bild davon zu machen.
Tendenz des Stückes sei nicht wirksam; es möge
vielleicht auf den gereiften, willensstarken Men¬
Die Nachmittagssitzung.
schen abschreckend wirken; aber auf die Jugend
Nach der Mittagspause wird die Beweisauf
wirke es demoralisierend. Er sei bedrückt ge¬
nahme fortgesetzt. Sie bringt noch eine Reihe
wesen über den Schmutz, der hier öffentlich her¬
von Zeugen vor den Gerichtstisch, die die Gründe
vorgezogen werde, und es sei jammervoll, daß vor
auseinandersetzen, warum sie empört über die
so vielen anwesenden jungen Paaren ein Ehe¬
Aufführung waren.
bruch nach dem andern vorgeführt werde.
Die Zeugin Lehrerin Frl. Teusch, Mitglied
Die Zeugin Frau Köhne äußert sich ähnlich
des Reichstages, hä“ das Stück für unzüchtig, da
wie ihr vernommener Ehemann über die Stellen,
das Spiel auf der Bühne den Geschlechtsverkehr
an welchen Anstoß von ihr genommen ist. Be¬
als Folge des sinnlichen Triebes zu deutlich vor¬
sonderes Aergernis hat es ihr bereitet, daß die
führe. In der Darstellung, die allerdings
sexuelle Entwicklung der Dinge in zehnmaliger
hart an die zulässige Grenze streift, hat die Zeu¬
Wiederholung dargestellt wird. Das Theater
gin Unzüchtiges nicht herausgefunden.
solle eine Stätte der Erholung und feelischen Er¬
Zeugin Frl. Gulke, Vorsitzende des Landes¬
hebung sein, hier aber werden nur Ausschreitun¬
verbandes preußischer Volksschullehrerinnen, hat
gen des sinnlichen Gefühlslebens vor Augen ge¬
gleichfalls Aergernis an dem Stück genommen.
führt. Der Darstellung wirft die Zeugin nur
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