II, Theaterstücke 11, (Reigen, 0), Reigen. Zehn Dialoge, Seite 984

rarischen Kultur, daß man aus der Aufführung eines so alten
Werkes eine „Sensation“ machen möchte, wenn nicht etwas
anderes dahinter steckte. Es ist nicht das Kunstwerk, um das es
hier geht sonder der Stoff, der in ihm behandelt wird. „Das
Pikanteste vom Pikanten“ murmeln sich die „Feinschmecker
blinzelnd zu. Und deuten verständnisinnig auf den Vermerk
des Theaterzettels: „Personen unter 20 Jahren ist der Zu ritt
untersagt.“ Man möchte Arthur Schnitzler zum Pornographen
stempeln und stöbert, wie gewisse grunzende Tiere im Waldgrund
nach Trüffeln, in seinen „Reigen“=Dialogen nach — übersetzen
wir das gute deutsche Wort, das hierher gehört, ins Franzö¬
sische — nach Cochonnerien.
Man wird dabei nicht auf seine Kosten kommen. Man wird
wenn man sich von diesem „Reigen“ Pikanterien verspricht, wie
sie auf sogenannten „Herren“=Abenden verzapft werden, mit
langem Gesicht abziehen und bei sich denken: „Das hatte ich mir
ganz anders gedacht.“ Allerdings behandelt der Reigen die
Sexualitätsfrage, aber in durchaus sachlicher, ernster Weise,
ohne den leifesten Versuch, rosa Schminke zu gebrauchen. Jeder
französische Schwank ist pikanter als diese Dialoge, in denen
mehr als in irgend einem andern Werk Schnitzlers der Medi¬
ziner dem Dichter die Hand geführt hat.
„Reigen". Zehn Dialoge. In jedem reden nur zwei Per¬
sonen zusammen, doch geht immer eine Person aus dem einen
Gespräch ins nächste über, sodaß eben die Kette, der Reigen,
entsteht. Es beginnen Dirne und Soldat, dann folgen Soldat
und Stubenmädchen. Stubenmädchen und junger Herr, junzer
Herr und junge Frau, junge Frau und Gatte, Gatte und süßes
Mädel, süßes Mädel und Dichter, Dichter und Schauspielerin,
Schauspielerin und Graf. Graf und Dirne: Der Reigen ist ge¬
schlossen. Gesprächsstoff jedes dieser zehn Dialoge: die Liebe,
aber die jeder Geistigkeit bare Sinnenliebe, der Sinnenreiz, der
Trieb zur sexuellen Vereinigung. Und die Gliederung jedes
Dialogs gleichmäßig zweiteilig: der erste Teil vor, der zweite
nach dem fexuellen Akt.
Diese nüchterne Konstruktion zeigt, daß es sich hier eigentlich
gar nicht — oder doch erst in zweiter Linie — um eine Dichtung
handelt. Was Schnitzler hier gibt, ist eine Folge von Experi¬
menten zu der psychologischen, oder besser: psychophysiologischen
Frage: Wie verhalten sich die Menschen unter dem sexuellen
Trieb und nach seiner Erledigung?
Wie ein anderer Experimentator Kaninchen, Meerschwein¬
chen oder Frösche, holt Schnitzler seine Menschenpaare nachein¬
ander auf den Experimentiertisch und untersucht sie, eins nach
dem andern auf Grund der psycho=analytischen Methode. Das
Ergebnis der zehn Experimente ist gleichmäßig folgendes: der
Mann ist erst begehrlich, die Frau zurückhaltend — die Frau ist
nachher zärtlich, der Mann verstimmt. Die Psycho=Analyse
Schnitzlers kann also auch nicht, anderes konstatieren als den
physiologisch=psychischen Rückschlag, über den sich schon der alte
Galenus im klaren war.
Erhebend sind diese Dialoge nicht, und lustig sind sie erst
recht nicht, geschweige denn frivol. Eher melancholisch, wie es
die Anschauung Schnitzlers überhaupt ist. Von geistiger Liebe,
von ewiger Liebe kann bei ihm nicht die Rede sein: zwischen den
Geschlechtern gibt es nur eine Beziehungsmöglichkeit den Trieb
der Sexualität, der aufflammt und wieder verglimmt, heut hier¬
hin, morgen dorthin sich wendet, der keine wahre Leidenschaft
kennt und zu keiner wahren Orgie die Kraft hat, der flüchtig
ist, aber kein Spiel. Oder doch ein Spiel, aber ein trauriges,
klägliches, eine Mischung, trübselig und grauenhaft. Dr. Theo¬
dor Reik, im Anschluß an den diese Ausführungen gemacht
sind, hat in seinem Buch „Arthur Schnitzler als Psycho¬
log“ (Minden, J. C. Bruns) darüber Ausführliches und durch¬
weg Zutreffendes gesagt.
Im ersten Dialog raunt die Dirne dem Soldaten zu: „Gib
Obacht! Wennst ausrutschst, liegst in der Donau,“ worauf dieser
brummig erwidert: „Wär' eh das beste!“ Lebensunfreudig,
lebensunkräftig, wie dieses Wort, sind dieGestalten der „Reigen“=
Dialoge durchweg, völlig beherrscht von dumpfen Trieben, unfrei,
unfähig zu selbständigem, gewolltem Auf- und Ausbruch. Reik hat
ganz recht, wenn er aus diesem Venus=Reigen das unheil¬
drohende Motiv des Danse Macabre, des Totentanzes
heraushört.
Zehn sexualpsychologische Experimente hat Schnitzler ge¬
macht. Den Bericht darüber hat er in Dialog=Form gegeben.
Daß diese Dialoge jemals auf die Bühne kommen sollten, war
nicht seine Absicht. Sie haben vom und fürs Theater so wenig,
wie etwa die Dialoge Platos. Ginge durch sie eine Figur hin¬
durch, die in mehreren Verhältnissen gezeigt würde, dann ließe
sich vielleicht eher darüber reden. Solche Art des Reigens liebt
Schnitzler ja aufzuzeigen. So in den Anatolszenen. So in der
Novelle vom „Freiherrn von Leisenbogh“, wo Kläre erst nach
verschiedenen anderen Liebesstationen den Freiherrn erhört. So
in der kecken Novelle -Erzentrik“, wo Kitty ihrem August erst
diesem Lan, r er e ee
aus Schnitzlers Venus=Reigen das unheildrohende Motiv des
Totentanzes heraushört.
Grillparzer und die Sbner-Sschenlach
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