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11. Reigen
ich nichts ausgelassen von dem, was diese Aufführung des Schau¬
spielhauses zu einer hocherfreulichen machte. Der Beifall des
übervollen Hauses, der in erster Linie Roderts galt, nahm
infolgedessen ungewöhnlich herzliche Formen an.
Kammerspiele. „Reigen“, Dialog in 10 Bildern von
Arthur Schnitzler. „Fleisch will zu Fleisch“ oder „So ist der
Tiermensch“ oder „Vorher und nachher oder „Mann ist Mann,
Weib ist Weit oder so üfnlich könnte dieser „Reigen“ wahllosen
Verkehrs betitelt sein, der sich von der Dirne über den Soldaten,
das Stubenmädchen, den jungen Herrn, die junge Frau, den Ehe¬
gatten, das süße Mädel, den Dichter, die Schauspielerin, den
Grafen zurück zur Dirne schlingt, in 10 Bildern à deux abge¬
teilt ist und deren jeweiligen Höhepunkt im Buch durch Ge¬
dankenstriche, auf der Bühne durch Verdunkelung der Szene
angedeutet wird. Schnitzler hat diese Dialoge im Winter 1896
bis 1897 geschrieben, also zu einer Zeit, da der Naturalismus
noch seine Hochkonjunktur hatte. In der lebendigen, klug, zumeist
etwas boshaft beobachteten Darstellung der Wirklichkeit erschöpft
sich auch dies wie eine Gelegenheitsarbeit anmutende Werk des
vielgewandten Wiener Autors. Zur Satire oder gar Anklage
fehlt ihm der bekennerische Ernst, die Parteinahme, das Weg¬
weiserische. So ist das Leben, sagt Schnitzler, macht eine Girlande
draus und möchte sie im Tempel der Kunst aufhängen. Ach nein,
lassen Se sie bitte draußen. Nach 25 Jahren trägt sie schon deut¬
liche Merkmale des Verwelktseins. Und wenn nicht die böse
Zensur bisher dafür gesorgt hätte, daß die Spannung auf eine
Bühnenverwirklichung wachblieb, der „Reigen hätte schon vor
25 Jahren, falls es außer der Zenfur auch der Dichter gewollt
hätte, eine sanfte Ablehnung erfahren. Das heißt: die Aufnahme
war einigermaßen beifällig und die Häuser werden einige Male,
vielleicht auch viele Mals, voll sein. Tja, woran das wohl liegen
mag? Na, etwas liegt es auch an der immerhin schauenswerten
Darstellung in den Kammerspielen, die die besten Kräfte in den
Dienst dieser heiklen Angelegenheit gestellt hatten. Johannes
Schröder hatte die — wenn die Verdunkelung nicht wäre
entsetzlich harmlosen Vorgänge in einen kreisrunden, gefälligen
Rahmen gespannt, innerhalb dessen das Milieu so realistisch wie
möglich veranschaulicht war. Der Spielleiter Marx hatte sanft
gedämpft und für eine liebenswürdige Gesamistimmung Sorge
getragen. Zu schauspielerischen Großleistungen lag kein Anlaß
vor. Immerhin sei die kätzchenweiche junge Frau von Frau Hor¬
witz besonders hervorgehoben, ebenso wie die stramm auf ihr Ziel
To EA
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losgehende Schauspielerin von Centa Bré. Anni Mewes,
die wir gern wieder begrüßen, war halt ein „süßes Mädel“, und
Fräulein v. Mahr, die Herren
Fräulein Kunzinger,
Marx, Benkendorf, Becker, Sondinger, Gynt
verdolmetschten, was es zu verdolmetschen gab. Die Aufgaben
waren nicht zu verfehlen. Nur das Theater verfehlte seine Auf¬
erka.
gabe.
Kunst, Wissenschaft und Leben.
Die Gesellschaft der Freunde des vaterländischen Schul= und
Erziehungswesens hielt am Sonntag vormittag im großen Saale
des Curiohauses eine stark besuchte Hauptversammlung ab, in der
nach scharfer Debatte der Antrag des Vorstandes, vom 1. April an
eine Vereinszeitschrift mit Pflichtbezug herauszugeben, abgelehnt
wurde, obgleich 492 Stimmen dafür, 413 dagegen abgegeben wur¬
den. Die Zweidrittelmehrheit, die in ausgedehnter Geschäfts¬
ordnungsdebatte verlangt war, wurde nicht erreicht. Dem Vor¬
stande wurde gegen ganz vereinzelte Stimmen weiteres Vertrauen
der erste Versuch, die
ausgesprochen. Damit ist — vorläufig —
Lehrerschaft in geschlossener gewerkschaftlicher Arbeit zusammen¬
zuführen, gescheitert. Von rechts hatte man auf die Beine ge¬
bracht, was nur eben zu haben wir. Mit Aufrufen und Flug¬
blättern. Selbst die „Hamburger Nachrichten“ brachten am Sonn¬
ag morgen einen tantenhaften Wahlmacheartikel „Der Hamburger
Schulmeister“, in dem sie selig vereint mit dem „Aufbau“ vor den
„routinierten Vereinsmeiern mit gewissen nie versagenden Knall¬
effekten ihrer robusten Dialektik“, vor den „radikalen Partei¬
bonzen in der Lehrerschaft“ warnen. Beide Redakteure des Auf¬
baus versuchten, nachdem der Sturm der Entrüstung ihnen ge¬
zeigt hatte, daß die Hamburger Lehrerschaft denn doch noch ge¬
nügend Wohlanständigkeit und Dankgefühl für jahrzehntelange
Arbeit eines Ballerstaedt, von Bartel, Niebank, Traeger im Leibe
hat, krampfhaft, aber mit wenig Glück von den „Nachrichten“ ab¬
zurücken und ihren Aufbau zu interpretieren. Nach unserer Mei¬
nung hätte der Vorstand rücksichtsloser sein sollen und diese Dinge
nicht erst nach Schluß der Abstimmung und im Anschluß an seine
Vertrauensfrage zur Sprache bringen sollen, wie es auch nach
unserer Meinung richtiger gewesen wäre, wenn der Gesamtvor¬
stand demissioniert hätte, um den „feinfühligen und innerlichen
Naturen“ des Aufbaus das Feld zu zäumen — zur Arbeit. Diese
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11. Reigen
ich nichts ausgelassen von dem, was diese Aufführung des Schau¬
spielhauses zu einer hocherfreulichen machte. Der Beifall des
übervollen Hauses, der in erster Linie Roderts galt, nahm
infolgedessen ungewöhnlich herzliche Formen an.
Kammerspiele. „Reigen“, Dialog in 10 Bildern von
Arthur Schnitzler. „Fleisch will zu Fleisch“ oder „So ist der
Tiermensch“ oder „Vorher und nachher oder „Mann ist Mann,
Weib ist Weit oder so üfnlich könnte dieser „Reigen“ wahllosen
Verkehrs betitelt sein, der sich von der Dirne über den Soldaten,
das Stubenmädchen, den jungen Herrn, die junge Frau, den Ehe¬
gatten, das süße Mädel, den Dichter, die Schauspielerin, den
Grafen zurück zur Dirne schlingt, in 10 Bildern à deux abge¬
teilt ist und deren jeweiligen Höhepunkt im Buch durch Ge¬
dankenstriche, auf der Bühne durch Verdunkelung der Szene
angedeutet wird. Schnitzler hat diese Dialoge im Winter 1896
bis 1897 geschrieben, also zu einer Zeit, da der Naturalismus
noch seine Hochkonjunktur hatte. In der lebendigen, klug, zumeist
etwas boshaft beobachteten Darstellung der Wirklichkeit erschöpft
sich auch dies wie eine Gelegenheitsarbeit anmutende Werk des
vielgewandten Wiener Autors. Zur Satire oder gar Anklage
fehlt ihm der bekennerische Ernst, die Parteinahme, das Weg¬
weiserische. So ist das Leben, sagt Schnitzler, macht eine Girlande
draus und möchte sie im Tempel der Kunst aufhängen. Ach nein,
lassen Se sie bitte draußen. Nach 25 Jahren trägt sie schon deut¬
liche Merkmale des Verwelktseins. Und wenn nicht die böse
Zensur bisher dafür gesorgt hätte, daß die Spannung auf eine
Bühnenverwirklichung wachblieb, der „Reigen hätte schon vor
25 Jahren, falls es außer der Zenfur auch der Dichter gewollt
hätte, eine sanfte Ablehnung erfahren. Das heißt: die Aufnahme
war einigermaßen beifällig und die Häuser werden einige Male,
vielleicht auch viele Mals, voll sein. Tja, woran das wohl liegen
mag? Na, etwas liegt es auch an der immerhin schauenswerten
Darstellung in den Kammerspielen, die die besten Kräfte in den
Dienst dieser heiklen Angelegenheit gestellt hatten. Johannes
Schröder hatte die — wenn die Verdunkelung nicht wäre
entsetzlich harmlosen Vorgänge in einen kreisrunden, gefälligen
Rahmen gespannt, innerhalb dessen das Milieu so realistisch wie
möglich veranschaulicht war. Der Spielleiter Marx hatte sanft
gedämpft und für eine liebenswürdige Gesamistimmung Sorge
getragen. Zu schauspielerischen Großleistungen lag kein Anlaß
vor. Immerhin sei die kätzchenweiche junge Frau von Frau Hor¬
witz besonders hervorgehoben, ebenso wie die stramm auf ihr Ziel
To EA
N0
losgehende Schauspielerin von Centa Bré. Anni Mewes,
die wir gern wieder begrüßen, war halt ein „süßes Mädel“, und
Fräulein v. Mahr, die Herren
Fräulein Kunzinger,
Marx, Benkendorf, Becker, Sondinger, Gynt
verdolmetschten, was es zu verdolmetschen gab. Die Aufgaben
waren nicht zu verfehlen. Nur das Theater verfehlte seine Auf¬
erka.
gabe.
Kunst, Wissenschaft und Leben.
Die Gesellschaft der Freunde des vaterländischen Schul= und
Erziehungswesens hielt am Sonntag vormittag im großen Saale
des Curiohauses eine stark besuchte Hauptversammlung ab, in der
nach scharfer Debatte der Antrag des Vorstandes, vom 1. April an
eine Vereinszeitschrift mit Pflichtbezug herauszugeben, abgelehnt
wurde, obgleich 492 Stimmen dafür, 413 dagegen abgegeben wur¬
den. Die Zweidrittelmehrheit, die in ausgedehnter Geschäfts¬
ordnungsdebatte verlangt war, wurde nicht erreicht. Dem Vor¬
stande wurde gegen ganz vereinzelte Stimmen weiteres Vertrauen
der erste Versuch, die
ausgesprochen. Damit ist — vorläufig —
Lehrerschaft in geschlossener gewerkschaftlicher Arbeit zusammen¬
zuführen, gescheitert. Von rechts hatte man auf die Beine ge¬
bracht, was nur eben zu haben wir. Mit Aufrufen und Flug¬
blättern. Selbst die „Hamburger Nachrichten“ brachten am Sonn¬
ag morgen einen tantenhaften Wahlmacheartikel „Der Hamburger
Schulmeister“, in dem sie selig vereint mit dem „Aufbau“ vor den
„routinierten Vereinsmeiern mit gewissen nie versagenden Knall¬
effekten ihrer robusten Dialektik“, vor den „radikalen Partei¬
bonzen in der Lehrerschaft“ warnen. Beide Redakteure des Auf¬
baus versuchten, nachdem der Sturm der Entrüstung ihnen ge¬
zeigt hatte, daß die Hamburger Lehrerschaft denn doch noch ge¬
nügend Wohlanständigkeit und Dankgefühl für jahrzehntelange
Arbeit eines Ballerstaedt, von Bartel, Niebank, Traeger im Leibe
hat, krampfhaft, aber mit wenig Glück von den „Nachrichten“ ab¬
zurücken und ihren Aufbau zu interpretieren. Nach unserer Mei¬
nung hätte der Vorstand rücksichtsloser sein sollen und diese Dinge
nicht erst nach Schluß der Abstimmung und im Anschluß an seine
Vertrauensfrage zur Sprache bringen sollen, wie es auch nach
unserer Meinung richtiger gewesen wäre, wenn der Gesamtvor¬
stand demissioniert hätte, um den „feinfühligen und innerlichen
Naturen“ des Aufbaus das Feld zu zäumen — zur Arbeit. Diese
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