II, Theaterstücke 11, (Reigen, 0), Reigen. Zehn Dialoge, Seite 990

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11. Reigen
Hamburger Kammeripiele.
Was hier am Sonnabend abend über Arthur
Schnitzlers Dialogen-Folge „Reigen“ gesagt wurde, fand
durch die Aufführung der Kammerspiele volle Bestätigung. Von
einer Sensation war nicht die Rede. Um so weniger, als die
Spielleitung des Herrn Marx die eigentliche Tendenz Schnitzlers,
die Sachlichkeit des Experimentators und das überall auftau¬
chende Totentanzmotiv mit geradezu peinlicher Gewissenhaftigkeit
eliminiert hatte. Die zehn Dialoge standen auf der Bühne, als
wären es ausgewählte Aktschlüsse aus zehn jener französischen
Schwänke, in denen das Bett die stumme Hauptrolle spielt.
Irgendwelche Wirkung konnten sie nur auf diejenigen ausüben,
die das Buch nicht gelesen hatten. Die übrigen erfreuten sich wohl
an manchem geistreichen und boshaften Schnitzlerschen Wort,
empfanden aber die stereotype Wiederholung desselben Ereig¬
nisses in den zehn zusammenhangslosen Zwiegesprachen auf die
Dauer als herzlich belanglos und amüsierten sich höchstens über
die exakte Plötzlichkeit des „Hell! — Dunkel!“ in den entscheiden¬
den Augenblicken.
Die Darsteller — die Damen Kündiger, von Mahr,
die Herren Beder, Son¬
Horwitz, Mewes, Bré,
nahmen sich
dinger, Marx, Gynt, Benekendorff —
ihrer Rollen sämtlich mit Eifer an und führten sie in dem von
der Spielleitung gewollten Stil sicher durch. Den wienerischen
Dialekt trafen allerdings nicht alle. Den stärksten schauspielerischen
Sie war gar
Erfolg hatte Fräulein Bré's „Schauspielerin“.
nicht Schnitzlerisch sondern reines Theater, aber als solches lustig
in jedem Augenblick
Zum Schluß gab es den in den Kammerspielen üblichen Ur¬
C. M.-R.
aufführungs=Beifall.
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Cotentanz.
Zur Uraufführung von Schnitzlers Reigen“ in den Hamburger
Kammerspielen.
Von
0 Tell##arl Müller=Rastatt.
Sittliche Erneuerung unseres Volkes ist notwenlig# Vor¬
aussetzung für den Wiederaufbau Deutschlands. Ansiht mit¬
zuarbeiten ist heilige Pflicht für jeden, der dazu irgendchie die
Möglichkeit hat. An führender Stelle sollte dabei das deutsche
Theater sich betätigen. Offenbar aus dieser Erkenntnis heraus
hat in Berlin das Kleine Theater, haben jetzt in Hamburg die
Kammerspiele in ihren Spielplan Arthur Schnitzlers
Dialogfolge „Reigen“ aufgenommen.
Der Vorwurf, es ginge dem Neuen, Unbekannten nach, kann
gegen das Theater, das „Reigen“ aufführt, nicht erhoben werden.
Das Buch ist bereits 1900 erschienen, konnte also seit zwanzig
Jahren von jedem, der Lust dazu hatte, gelesen werden, ist,
wenn man im Jargon unserer raschlebigen Zeit reden will, schon
eine ganz alte, eine beinahe schon schimmelig gewordene Sache.
Und es wäre somit bezeichnend für den Tiefstand unserer lite¬
rarischen Kultur, daß man aus der Aufführung eines so alten
Werkes eine „Sensation“ machen möchte, wenn nicht etwas
anderes dahinter steckte. Es ist nicht das Kunstwerk, um das es
hier geht sonderg der Stoff, der in ihm behandelt wird. „Das
Pikanteste vom Pikanten“ murmeln sich die „Feinschmecker
blinzelnd zu. Und deuten verständnisinnig auf den Vermerk
des Theaterzettels: „Personen unter 20 Jahren ist der Zu ritt
untersagt.“ Man möchte Arthur Schnitzler zum Pornographen
stempeln und stöbert, wie gewisse grunzende Tiere im Waldgrund
nach Trüffeln, in seinen „Reigen“=Dialogen nach — übersetzen
wir das gute deutsche Wort, das hierher gehört, ins Franzö¬
sische — nach Cochonnerien.
Man wird dabei nicht auf seine Kosten kommen. Man wird,
wenn man sich von diesem „Reigen“ Pikanterien verspricht, wie
sie auf sogenannten „Herren"=Abenden verzapft werden, mit
langem Gesicht abziehen und bei sich denken: „Das hatte ich mir
ganz anders gedacht.“ Allerdings behandelt der Reigen die
Sexualitätsfrage, aber in durchaus sachlicher, ernster Weise,
ohne den leisesten Versuch, rosa Schminke zu gebrauchen. Jeder
französische Schwank ist pikanter als diese Dialoge, in denen
mehr als in irgend einem andern Werk Schnitzlers der Medi¬
ziner dem Dichter die Hand geführt hat.
„Reigen“. Zehn Dialoge. In jedem reden nur zwei Per¬
sonen zusammen, doch geht immer eine Person aus dem einen
Gespräch ins nächste über, sodaß eben die Kette, der Reigen,
entsteht. Es beginnen Dirne und Soldat, dann folgen Soldat
und Stubenmädchen. Stubenmädchen und junger Herr, jumzer
Herr und junge Frau, junge Frau und Gatte, Gatte und süßes
Mädel, süßes Mädel und Dichter, Dichter und Schauspielerin,
Schauspielerin und Graf, Graf und Dirne: Der Reigen ist ge¬
schlossen. Gesprächsstoff jedes dieser zehn Dialoge: die Liebe,
aber die jeder Geistigkeit bare Sinnenliebe, der Sinnenreiz, der
Trieb zur sexuellen Vereinigung. Und die Gliederung jedes
Dialogs gleichmäßig zweiteilig: der erste Teil vor, der zweite
nach dem sexuellen Alt.
Diese nüchterne Konstruktion zeigt, daß es sich hier eigentlich
gar nicht — oder doch erst in zweiter Linie — um eine Dichtung
handelt. Was Schnitzler hier gibt, ist eine Folge von Experi¬
menten zu der psychologischen, oder besser: psychophysiologischen
Frage: Wie verhalten sich die Menschen unter dem sexuellen
Trieb und nach seiner Erledigung?
Wie ein anderer Experimentator Kaninchen, Meerschwein¬
chen oder Frösche, holt Schnitzler seine Menschenpaure nachein¬
ander auf den Experimentiertisch und untersucht sie, eins nach
dem andern, auf Grund der psycho=analytischen Methode. Das
Ergebnis der zehn Experimente ist gleichmäßig folgendes: der
Mann ist erst begehrlich, die Frau zurückhaltend — die Fräu ist
nachher zärtlich, der Mann verstimmt. Die Psycho=Analyse
Schnitzlers kann also auch nicht, anderes konstatieren als den
physiologisch=psychischen Rückschlag, über den sich schon der alte
Galenus im klaren war.
Erhebend sind diese Dialoge nicht, und lustig sind sie erst
recht nicht, geschweige denn frivol. Eher melancholisch, wie es
die Anschauung Schnitzlers überhaupt ist. Von geistiger Liebe,
von ewiger Liebe kann bei ihm nicht die Rede sein: zwischen den
Geschlech ern gibt es nur eine Beziehungsmöglichkeit den Trieb
der Sexualität, der aufflammt und wieder verglimmt, heut hier¬
hin, morgen dorthin sich wendet, der keine wahre Leidenschaft
kennt und zu keiner wahren Orgie die Kraft hat, der flüchtig
ist, aber kein Spiel. Oder doch ein Spiel, aber ein trauriges,
klägliches, eine Mischung, trübselig und grauenhaft. Dr. Theo¬
dor Reik, im Anschluß an den diese Ausführungen gemacht
sind, hat in seinem Buch „Arthur Schnitzler als Psycho¬
log“ (Minden. I. C. Bruns) darüber Ausführliches und durch¬
weg Zutreffendes gesagt.
Im ersten Dialog raunt die Dirne dem Soldaten zu: „Gib
Obacht! Wennst ausrutschst, liegst in der Donau,“ worauf dieser
„Wär eh das beste!“ Lebensunfreudig,
brummig erwidert:
lebensunkräftig, wie dieses Wort, sind dieGestalten der „Reigen“=
KnneHmmmBchGmifrnen Eiimbreit Trieben Ie1