11.
box 18/3
Reigen
Klose & Seidel
Bureau für Zeitungsausschnitte
Berlin NO. 43, Georgenkirchplatz 21
ST8.-21
Zeitung:
Ort:
BA930
Datum:
1
20
kins Gesicht. Seltsam, daß Schnitzler, der Künstler,
Krietern
das heute nicht mehr empfindet und jetzt erlaubt,
9
Dienstag, 18. Oktober: „Reigen“.
was er zwei Jahrzehnte lang aus guten, künstle¬
Nie hätte ich gedacht, daß ich noch einmal das
rischen Gründen verhindert hat. Seltsamer, daß
Burg= oder vielmehr Bürger=Theater von Krietern
er nicht weiß, wie langweilig die zehnmalige Wieder¬
aufsuchen würde. Aber der Mensch denkt und die
holung des gleichen Geschehens auf der Bühne wirken
Zensur lenkt. Nicht zu glauben, welch zähes Leben
muß, das in der ursprünglich feuilletonistischen Form
solch eine bürokratische Institution noch nach ihrem
zehnmal amüsierte. Am seltsamsten, daß er nicht
Tode hat. Eigentlich existiert sie ja gar nicht mehr,
ahnte, welche Gefahren der muntere „Reigen“ laufen
aber als Breslaus hochgradige Sittlichkeit von den
würde, sobald er allen Zufällen der Wanderschaft
zehn Dialogen Schnitzlers bedroht wurde, da erhob
preisgegeben, in ungeschickte Hände oder auf grob
knarrende Bretter geraten konnte.
ie sich flugs alls dem Grüde und jagte den „Reigen“
über die Stadtgrenze nach Krietern. Womit sie eine
Wenn es eine künstlerische Zensur gäbe, so hätte
hübsche Begriffsverwirrung anrichtete. Die Krie¬
sie den „Reigen“ in Krietern verbieten müssen. Denn
terner können also vertragen, was die Breslauer
in diesem nüchternen Saale, auf dieser winzigen
nicht vertragen können, und das Seelenheil der
Bühne ohne taugliche Dekorationen, aber mit zweck¬
Breslauer wird nur in Breslau behütet. Aber wenn
widrigster Beleuchtung, wurde er zur unfreiwillig
sie mit der Elektrischen (Linie 2) bis zur Endstation
komischen Farce. Das Publikum lachte sich halbtot,
fahren, woran sie die Polizei keineswegs hindert.
aber nicht über den zehnmal variierten Sexual=Witz
dann sind sie schutzlos allen Dämonen der Wollust
Schnitzlers, sondern etwa über den „Dichter“, der
preisgegeben. Im übrigen hat die 6. Zivilkammer
das holde Gesicht seines „süßen Mädels“ in der
des Landgerichts III in Berlin entschieden, daß die
Finsternis nicht zu sehen können erklärte, obzwar
Aufführung des „Reigen“ nicht nur nicht gegen die
es von einem grellen Scheinwerfer strahlend illumi¬
guten Sitten verstoße, sondern (hm!) „eine sittliche
niert wurde. Es lachte sich dreiviertel tot, wenn der
Tat“ bedeute. Und nun hindern die Moralwächter
Vorhang, sobald er die ominösen Gedankenstriche
Breslaus ihre Schützlinge im Namen der Sittlichkeit,
vertreten sollte, streikte und nach wie vor die
sich an einer gerichtskundlich sittlichen Tat zu
Akteure sehen ließ, die nun aber durchaus nicht das
bauen. Da aber bekanntlich stets die Tugend siegt,
agierten, was ihnen die schwüle Situation eigentlich
so hat alsbald auch die Tugend des „Reigen“ die Zen¬
vorschrieb. Es lachte sich ganz tot, als endlich auch
sur besiegt, welch letztere sich selbst desavouieren
das Hauptrequisit des Abends, das Bett, zu streiken
mußte. Das Endergebnis ist eine prächtige Re¬
begann und sich gegen seine allzu häufige Benützung
klame für den „Reigen“ der sonst wohl nur an
auflehnte. Wenn die Berliner Reigen=Truppe weiter
einer Breslauer Stelle getanzt worden wäre, jetzt
tanzt, dann möge sie wenigstens ein solid=unsolides,
aber an dreien getanzt werden wird.
gegen alle Strapazen abgehärtetes Bett erwerben
Unter uns gesagt, er hatte die Reklame auch
und sich nicht auf die keuschen Möbel des Ortes ihrer
nötig. Dieser derb erotische Nachtänzer des zart
jeweiligen Taten verlassen.
erotischen „Anatol“ ist eine erstaunlich schwache
Ueber die einzelnen Darsteller zu sprechen, die
Leistung Schnitzlers, genießbar nur in ihrer
immerhin wenigstens den Wiener Dialekt anklingen
ursprünglichen Buchform, mit der sie sich 20 Jahre
ließen, hätte keinen Zweck. Sie kamen nur auf kurze
lang begnügt hat, aber unmöglich auf dem Theater.
Zeit zu uns und eine Genie ist bestimmt nicht unter
So oft das jeweils auf der Szene befindliche Liebes¬
ihnen. Wohl aber eine alte Bekannte, nämlich Frl.
paar nach einigem mehr oder minder sanften Vor¬
Copony, die unter der Direktion Gorter einen
postengeplänkel entschlossen zum Kernpunkt der An¬
Winter lang bei uns Heroinen geradebrecht hat. Sie
gelegenheit vorschreitet, dann zeigt das Buch alle¬
spricht noch immer ungarisch=deutsch und hat sich auch
mal eine Reihe suggestiver Gedankenstriche.
Bei
sonst nicht verändert. Uebrigens hatte sie den
Gedankenstrichen kann eine halbwegs begabte Phan¬
Hauptkamuf mit dem renitenten Bett auszumachen
lei angenehme Gedanken streichen lassen.
und war klug genug. nachzugeben, als das Bett nach¬
Theater aber muß sich mit einer Verdunkelung
gab. indem sie es verließ und sich einem Stuhl an¬
#allen deutlichen Fatbestandes behelfen
veriraute, obwohl Schnitzlers durchaus horizontale
schlügt damit zehn Male sch selbst, der Schau=Bühne. Gedankenstriche niemals auf einen Stuhl hinweisen.
Für die Bühne, den Scheinwerfer, das Bett, das
Talglicht (das auch streikie) und das Zusammenspiel
zeichnete als Regisseur Herr Fritz Sampers. Mein
aufrichtiges Beileid.
Erich Freund.
box 18/3
Reigen
Klose & Seidel
Bureau für Zeitungsausschnitte
Berlin NO. 43, Georgenkirchplatz 21
ST8.-21
Zeitung:
Ort:
BA930
Datum:
1
20
kins Gesicht. Seltsam, daß Schnitzler, der Künstler,
Krietern
das heute nicht mehr empfindet und jetzt erlaubt,
9
Dienstag, 18. Oktober: „Reigen“.
was er zwei Jahrzehnte lang aus guten, künstle¬
Nie hätte ich gedacht, daß ich noch einmal das
rischen Gründen verhindert hat. Seltsamer, daß
Burg= oder vielmehr Bürger=Theater von Krietern
er nicht weiß, wie langweilig die zehnmalige Wieder¬
aufsuchen würde. Aber der Mensch denkt und die
holung des gleichen Geschehens auf der Bühne wirken
Zensur lenkt. Nicht zu glauben, welch zähes Leben
muß, das in der ursprünglich feuilletonistischen Form
solch eine bürokratische Institution noch nach ihrem
zehnmal amüsierte. Am seltsamsten, daß er nicht
Tode hat. Eigentlich existiert sie ja gar nicht mehr,
ahnte, welche Gefahren der muntere „Reigen“ laufen
aber als Breslaus hochgradige Sittlichkeit von den
würde, sobald er allen Zufällen der Wanderschaft
zehn Dialogen Schnitzlers bedroht wurde, da erhob
preisgegeben, in ungeschickte Hände oder auf grob
knarrende Bretter geraten konnte.
ie sich flugs alls dem Grüde und jagte den „Reigen“
über die Stadtgrenze nach Krietern. Womit sie eine
Wenn es eine künstlerische Zensur gäbe, so hätte
hübsche Begriffsverwirrung anrichtete. Die Krie¬
sie den „Reigen“ in Krietern verbieten müssen. Denn
terner können also vertragen, was die Breslauer
in diesem nüchternen Saale, auf dieser winzigen
nicht vertragen können, und das Seelenheil der
Bühne ohne taugliche Dekorationen, aber mit zweck¬
Breslauer wird nur in Breslau behütet. Aber wenn
widrigster Beleuchtung, wurde er zur unfreiwillig
sie mit der Elektrischen (Linie 2) bis zur Endstation
komischen Farce. Das Publikum lachte sich halbtot,
fahren, woran sie die Polizei keineswegs hindert.
aber nicht über den zehnmal variierten Sexual=Witz
dann sind sie schutzlos allen Dämonen der Wollust
Schnitzlers, sondern etwa über den „Dichter“, der
preisgegeben. Im übrigen hat die 6. Zivilkammer
das holde Gesicht seines „süßen Mädels“ in der
des Landgerichts III in Berlin entschieden, daß die
Finsternis nicht zu sehen können erklärte, obzwar
Aufführung des „Reigen“ nicht nur nicht gegen die
es von einem grellen Scheinwerfer strahlend illumi¬
guten Sitten verstoße, sondern (hm!) „eine sittliche
niert wurde. Es lachte sich dreiviertel tot, wenn der
Tat“ bedeute. Und nun hindern die Moralwächter
Vorhang, sobald er die ominösen Gedankenstriche
Breslaus ihre Schützlinge im Namen der Sittlichkeit,
vertreten sollte, streikte und nach wie vor die
sich an einer gerichtskundlich sittlichen Tat zu
Akteure sehen ließ, die nun aber durchaus nicht das
bauen. Da aber bekanntlich stets die Tugend siegt,
agierten, was ihnen die schwüle Situation eigentlich
so hat alsbald auch die Tugend des „Reigen“ die Zen¬
vorschrieb. Es lachte sich ganz tot, als endlich auch
sur besiegt, welch letztere sich selbst desavouieren
das Hauptrequisit des Abends, das Bett, zu streiken
mußte. Das Endergebnis ist eine prächtige Re¬
begann und sich gegen seine allzu häufige Benützung
klame für den „Reigen“ der sonst wohl nur an
auflehnte. Wenn die Berliner Reigen=Truppe weiter
einer Breslauer Stelle getanzt worden wäre, jetzt
tanzt, dann möge sie wenigstens ein solid=unsolides,
aber an dreien getanzt werden wird.
gegen alle Strapazen abgehärtetes Bett erwerben
Unter uns gesagt, er hatte die Reklame auch
und sich nicht auf die keuschen Möbel des Ortes ihrer
nötig. Dieser derb erotische Nachtänzer des zart
jeweiligen Taten verlassen.
erotischen „Anatol“ ist eine erstaunlich schwache
Ueber die einzelnen Darsteller zu sprechen, die
Leistung Schnitzlers, genießbar nur in ihrer
immerhin wenigstens den Wiener Dialekt anklingen
ursprünglichen Buchform, mit der sie sich 20 Jahre
ließen, hätte keinen Zweck. Sie kamen nur auf kurze
lang begnügt hat, aber unmöglich auf dem Theater.
Zeit zu uns und eine Genie ist bestimmt nicht unter
So oft das jeweils auf der Szene befindliche Liebes¬
ihnen. Wohl aber eine alte Bekannte, nämlich Frl.
paar nach einigem mehr oder minder sanften Vor¬
Copony, die unter der Direktion Gorter einen
postengeplänkel entschlossen zum Kernpunkt der An¬
Winter lang bei uns Heroinen geradebrecht hat. Sie
gelegenheit vorschreitet, dann zeigt das Buch alle¬
spricht noch immer ungarisch=deutsch und hat sich auch
mal eine Reihe suggestiver Gedankenstriche.
Bei
sonst nicht verändert. Uebrigens hatte sie den
Gedankenstrichen kann eine halbwegs begabte Phan¬
Hauptkamuf mit dem renitenten Bett auszumachen
lei angenehme Gedanken streichen lassen.
und war klug genug. nachzugeben, als das Bett nach¬
Theater aber muß sich mit einer Verdunkelung
gab. indem sie es verließ und sich einem Stuhl an¬
#allen deutlichen Fatbestandes behelfen
veriraute, obwohl Schnitzlers durchaus horizontale
schlügt damit zehn Male sch selbst, der Schau=Bühne. Gedankenstriche niemals auf einen Stuhl hinweisen.
Für die Bühne, den Scheinwerfer, das Bett, das
Talglicht (das auch streikie) und das Zusammenspiel
zeichnete als Regisseur Herr Fritz Sampers. Mein
aufrichtiges Beileid.
Erich Freund.