II, Theaterstücke 11, (Reigen, 0), Reigen. Zehn Dialoge, Seite 1052

28 November 1921.

= Aussiger Stadtlhealer. (Szenische Vorlesung
„Reigen“ von Arthur Schnitzler.) Der
„Moralreigen“ so betitelt Dr. Alfred Kerr,
der geistreiche Theaterkritiker, seinen Vortraz, den
er zu gleicher Zeit, wie unsere Reigen-Vorlesung
Sonntag vormittag in Berlin hielt. Eine Parodie
auf den Reigen der Liebe ist der Moralreigen, der
sich in den grotesken Formen allenthalben abspielt
und aus der stillen, stimmungsvollen Szenenreihe
ein lautes Kassastück machte. Das kleine Bändchen,
das die mit feinen satirischen Strichen gezeichneten
Bilder des Liebesreigens enthält, hat vor mehr als
20 Jahren nicht nur die literarischen Feinschmecker
entzückt, sondern wurde auch von keinem der vielen
Leser, die es mit stillem Verständnis gelesen, irgend.
wie anstößig gefunden. Der Dichter zeigte aller¬
dings nur einem ausgewählten Leserkreise Liebes¬
szenen, wie sie sich im leichtlebigen Wien alltäglich
abspielen: die Dirne und der Soldat unter dem
Viadukt, der Soldat und das Stubenmädchen au
den Praterauen, das Stubenmädchen und der junge
Herr in der Wohnung, der junge Herr und die ver¬
heiratete Frau im Absteigquartier, das Ehepaar im
Heim, der verheiratete Mann und das süße Mäcel
im Kabarett, das süße Mädel und der Dichter in
der Vorstadt, der Dichter und die Schauspielerin im
Gasthof, die Schauspielerin und der Graf im Mor¬
gensalon, der Graf und die Dirne im verrufenen
Hause; so schließt die Kette des sich im ewige
Kreise drehenden Liebesreigens. In d er An¬
einanderreihung der dem Leben mit psychologischer
Feinheit abgelauschten zehn Liebesszenen illustriert
der Dichter, wie flüchtig der Sinnrausch im leichten
Liebesspiel verraucht und einem Gefühle der Ent¬
täuschung Platz macht; es kann und soll daher
ethisch moralisch wirken, wie das Berliner Gericht
nach einem umständlichen Beweisverfahren fest¬
stellte. Wenn es noch eines Zeugnisses bedurft hätte.
Arthur Schnitzler ist, wie das Gerichtsurteil fest¬
stellt und wie auch unser Direktor vor seiner Vor¬
lesung feierlichst versicherte, ein wirklicher Dichler.
Dieses Urteil wird vereinst in der Literatur¬
geschichte seinen würdigen Platz finden. Ueber die
Aufführbarkeit des Werkes wird viel gestritten. Der
Dichter selbst hat wiederholt versichert, daß er an
eine Aufführung des Werkes niemals gedacht habe
Die Stimmung des Stückes ist im Falle der Auf¬
führung verloren, wenn nicht im Zuschauerraum
und auf der Böhne ein stimmungsvolles Eingehen
auf die Absichten des Dichters vorhanden ist. Un¬
sere Bühnenleitung, die sich die durch den günstig
erledigten Prozeß darbietende Gelegenheit des mo¬
ralischen und Kassaerfolges nicht entgehen lassen
wollte, hat das Probiem geschickt gelöst und eine
szenische Vorlesung des Werkes veranstaltet, die den
Anforderungen des Inhaltes, als auch der Stim¬
mung vollauf gerecht wurde. Herr Direktor A.
Huttig ist für die Wienerische Atmosphäre der
Schnitzlerschen Liebesgestalten wie geschaffen und
es ist staunenswert, wie er selbst beim Lesen die
verschiedenen Nuancen der Wiener Männertypen
gelungen ausdrückte. Die Vorlesung selbst war von
Direktor Huttig so geschickt arrangiert, daß die Zu¬
hörer sich ebenso wie der Leser in die Gedankenwelt
des Dichters versetzen konnten. In buntem Reigen
zogen die weiblichen Darstellerinnen im Kostüm wie
lebendige Illustrationen an dem Leser vorüber.
Frl. Bertram war hiebei in der Doppelcolle der
Dirne und jungen Frau von gleichem charalteristi¬
chem Reiz. Frl. Heidl als Stubenmädchen, Frl.
Stix als süßes Mädel und Frl. Helwig aus
Schauspielirn lasen ihre Rollen mit dramatischer
Deutlichkeit. Das bis auf das letzte Plätzchen aus¬
verkaufte Haus lauschte still gespannt auf jedes
Wort und drückte zum Schluß seine Befriedigung
durch lauten Beifall aus. Viele hatten mehr, einige
weniger erwartet.
r.
Aussig, 29. November 1921.
Kunst und Wissen.
„Reigen.“ Zehn Dialoge von Arthur Schnitzler.
Das tausendfältige Spiel, das immer nur einen Sinn und
ein Motiv hat — den allgewaltigen Trieb der Geschlechter
zu einander, mit all seinen Variationen, seinen tausendfachen
Künsten, Verlogenheiten, Brutalitäten, die die Früchte unserer
heuchlerischen Gesellschaftsmoral sind, in der die Menschen
ich nicht zur freien Liebe in des Wortes edelster Bedeutung
bekennen dürfen, und wenn sie es dürfen, nicht reif dazu
sind — dieses tausendfältige Spiel hat Schnitzler in einigen
typischen Beispielen festgehalten. So muß denn diese Dich¬
tung, die uns am Sonntag zu Gehör gebracht wurde, auf
vokurteilslose, rein empfndende Menschen wie jede Ent¬
hüllung trauriger Dinge gewirkt haben: erschütternd und er¬
kenntnisbringend. Märe unsere Jugend reif genug, von
allem Beswerk unbeeinflußt, nur die Tragik dieser Dichtung
zu erkennen, man mütte sie zu einer solchen Darbietung
führen, um ihr die ganze Heuchelei, Falschheit und Veedeebt¬
heit unser #ofehenden Liebes= und Ehemoral vor Augen zu
führen. So aber ist dieses Werk nur für gefestigte, reife
Menschen geschaffen, die seinen tiefen Sinn zu erfassen ver¬
mögen. Und diese unter den Zuhörern werden unserer
Theaterleitung dafür Dank wissen, daß sie in der sonntägigen
Vorführung, die vom Direktor Huttig stimmungsvoll in¬
szeniert war, mit diesem vielumstrittenen, angefeindeten und
gelästerten Werke bekannt wurden. Es war eine szenische
Vorlesung, in der Direktor Huttig die männlichen Rollen,
Lo Bertram, Hedi Heidl, Tily Stix und Lisa Helwig die
weiblichen Rollen lasen. Das Ganze, von künstlerischem
Ernst erfüllt, mußte ehrliche Anerkennung wecken, und er¬
reichte seinen Zweck, was der aufrichtige Beifall am Schluß
der Darbietung bewies. Das Haus war, wie zu erwarten
war, ausverkauft.