II, Theaterstücke 11, (Reigen, 0), Reigen. Zehn Dialoge, Seite 1157

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11. Reigen
Dr. Max Goldschmidt
Büro für Zeitungsausschnitte
Teleion Norden 3051
BERLIN N 4
Ausschnitt aus:
Berliner Börsen-Courier
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Fiallenische Theaternotizen.
D' Annunzio und Schnitzler.
Rom, im März.
Die Mailänder Scala hat jetzt ihre große Sai¬
son. Toscanini ist von seiner Amerika¬
Tournee zurückgekehrt, und nach einer wohl¬
gelungenen Wiedergabe der „Kovantchina“„von
Mussorgski fand dieser Tage die mit großer, Span¬
nung erwartete italienische Uraufführung des
„Martyriums des
heiligen Se¬
bastian“ von D'Annunzio mit der Begleit¬
musik von Debussy statt. Das Werk, das vor
fünfzehn Jahren entstanden und zum ersten Male
im Chatelet in Paris aufgeführt wurde, ist völlig
umgearbeitet und stark gekürzt worden; von den
fünf „Stationen“ des Originals sind nur noch vier
übriggeblieben. Die Aufführung an der Scala
mit Ida Rubinstein in der Titelrolle und
einigen der hervorragendsten Mitglieder der Com¬
médie Francaise gestaltete sich zu einem Theater¬
ereignis allerersten Ranges. Die Stabführung halte
Toscanini. D'Annunzio, der der Aufführung in
Generalsuniform beiwohnte, war Anlaß patrioti¬
scher Kundgebungen. Der Applaus, der dem Werke
galt, scheint den Berichten der Presse zufolge
wveniger groß gewesen zu sein. Recht amüsant und
bezeichnend für die heutigen Theaterverhältnisse
in Italien ist folgendes. Das Werk wurde schon
seinerzeit 1911 von den Erzbischöfen in Paris und
Mailand auf den Index gesetzt, und die Diözese
von Mailand erinnerte dieser Tage erneut daran,
daß es allen Katholiken auf Grund des kanonischen
Rechtes verboten sei, den Aufführungen des „Mar¬
tyriums“ von D'Annunzio beizuwohnen. Aber das
genügte noch nicht. Am Tage der Aufführung in
der Scala fand in der Mailänder Kirche San
Raffaele eine heilige Funktion statt, eine „kunzione
reparatrice“, um die gekränkte Gottheit zu ver¬
söhnen.
In Rom, im Theater Bragaglias, erlebte dieser
Tage Schnitzlers „Reigem (Girotondo) die ita¬
enische Kräuffühküng. Schnitzler, der doch sozar
sthon ins Japanische übersetzt worden ist, ist in
Italien bisher wenig bekannt. Um so anerkennens¬
werter die Leistung Bragagkias, der von jeher be¬
müht war, moderne ausländische Autoren dem ita¬
licnischen Publikum zu vermitteln. Bragaglia ver¬
steht es meisterhaft, auf seiner kleinen Experimental¬
bühne mit bescheidensten Hilfsmitteln eindrucksvolle
und künstlerisch=stilvolle Wirkungen zu erzielen.
Weniger glücklich ist er in der Zusammenstellung
seines Ensembles. Die schauspielerische Wiedergabe
war durchaus unzureichend, und das ganz auf den
Dialog gestellte und nur vom Dialog aus zu spie¬
lende Stück versank in der Monotonie eines
nuancenlosen und gleichförmigen Spiels.
kennenswert immerhin die graziöse und leichte Art,
mit der über die für hiesige Begriffe besonders
gewagten Stellen hinweggespielt wurde. Daran
hätte auch Professor Brunner keinen „Anstoß“ ge¬
nommen. Die Aufnahme des Stückes war, wesent¬
lich infolge der matten schauspielerischen Wieder¬
gabe, recht schwach und die Kritiken der Presse
dementsprechend. Trotz dieser dezenten und unan¬
stößigen Wiedergabe wurde das Stück wenige Tage
ch der Erstaufführung verboten.
Dr. Max Goldschmiet
Büro für Zeitungsausschnitte
Teleion: Norden 305
BERLIN N4
Ausschnitt aus
Rheinisch-Westfäl. Zeitung, Essen
22. M
Bohe- Wijei-Lebe
Italienischer (Kunst=) Salat
Ein Dutzend Jahre nach der Pariser Uraufführung hat nun
auch die Scala in Mailand das dramatische Mysterium „Die
Leiden des Heiligen Sebastian“, Dichtung von Ca¬
briete d'Annunzio, Musik von Claude Debussy zur Auf¬
führung gebracht. Wie schon damals das französische so hat sich
diesmal das italienische Publikum herzlich und aufrichtig dabei ge¬
langweilt. Aber da es sich um das Werk ihres „Nationalhelden“
handelte, haben die Italiener, die sonst keine Rücksicht zu nehmen
gewohnt sind, und die sie auch bei Künstlern wie Verdi und Puccini
nie genommen haben, diermal gule Miene zum bösen Spiel-ge¬
macht. D'Annunzto, der „Göttliche, saß bei j.der Vorstellung in
hoher Generalsuniform in einer Loge und benutzte die günstige
Gelegenheit, wieder einmal allabendlich dem Puvlikum Kriegs¬
reden zu talten und das nicht nur in den Pausen seines „Se¬
bastian, sondern auch in einer Vorstellung von Gluck's Orpheus
Ein Wunder, daß er seine Kanonen vom Gardasee nicht mitge¬
bracht hatte. Seiner Gewohnheit gemäß hat er alle möglichen
Ernennungen vorgenommen: Claude Debussy hat er zu „Claude
von Frankreich“ ernannt und Arturo Toscanini, den Dirigenten
zu „König Artur". Debussy, der bereits tot ist, kann von der
Großmut d'Annunzios keinen Gebrauch mehr machen, und wie
Toscanini die Sache ausgenommen hat, weiß man nicht. Im all¬
gemeinen liebt er solche Schaustellungen sehr wenig, da er ein viel
zu ernster Mensch und Künstler ist.
Deutsche Künstler treten aus begreiflichen Gründen zur Zeit
sehr wenig in Italien auf. Auch die Berliner Singaka¬
demie, die einige große Chorkonzerte im „Augusteo“ in Rom
absolvieren sollte, hat vernünftigerweise abgesagt und statt dessen
hat Pietro Mascagni drei Symphoniekonzerte dirigiert. Es
waren bunte Programme, in denen neben Beethovenschen Sym¬
phonien, Wagnersche Musik und italienische Opernouvertüren bunt
vereint waren. Nach der Eroica das Intermezzo aus „Cavallerig
rusticana“ zu ertragen und zur Wiederholung zu verlangen, dazu
gehört schon ein italienischer Musikmagen. Es war
natürlich ein gut Teil Patriotismus dabei im Spiele, und die
Rufe „Es lebe die italienische Musik“ waren nur Ausdruck der¬
selben Empfindung, die die Musikkritiker veranlaßte, das Mas¬
cagnische Intermezzo mit Händels „Largo“ zu vergleichen
und keinen nennenswerten Gradunterschied zwischen Beethoven
und Mascagni zu finden. Mascagni, der bekanntlich seit Jahren
als Dirigent durch die Lande reist und besonders freundliches Ent¬
gegenkommen in Deutschland und Oesterreich gefunden hat, hat
ich auch interviewen lassen über seine Eindrücke im Auslande.
Man muß es ihm lassen, daß er sich sehr „offen“ ausgesprochen
hat. Und wenn er schließlich an der deutschen „Rigoletto“=Auf¬
fassung Anstoß nimmt so ist das seine Geschmacksache. Er be¬
zeichnet die deutsche Tradition, das Schlußduett zwischen Rigoletto
und seiner bereits erstochenen Tochter fortzulassen,
haarsträubend, vergißt aber dabei, daß Verdi trotz aller sch##
Musik mit diesem Duett nur eine Konzession an den damalige
Publikumsgeschmack gemacht hat, eine Konzession, die heute
geradezu unmöglich und lächerlich ist.
Auffallend ist, welche großen Fortschritte in Italien plötzlich
die „öffentliche“ Sittlichkeit macht. Die Polizei=Zensur ist eifrig
am Werke, alle Druckschriften zu beschlagnahmen, die irgendwie
mit den staatlich anerkannten und angeordneten Sittengesetzen in
Widerspruch stehen. Deshalb wunderte man sich als Kenner nicht
ohne Grund, daß auf Bragaglias moderner Kunstbühne in Rom
Schnitzlers „Reigen“ aufgeführt werden konnte. Man
wundert=sich#ber#nich mehr, daß nun, nachdem erst alle,
die sich „dafür interessieren, das Stück haben sehen
können, ein Verbot herausgekommen ist. Den kleinen Mäd¬
chen wird das Tanzen verleidet, den Dichtern werden die Verse
beschlagnahmt und auf der Varietébühne bekleidet man sich mehr
und mehr — wahrscheinlich weil Italien nicht mehr weiß, was
es mit seinem Bevölkerungsüberschuß anfangen soll.
Die Regelung des gesamten Kunstlebens ist an die italienische
Autorengesellschaft übergegangen, die jetzt so gut wie staatlich ist.
Und so werden die Autoren sich in Zukunft nicht weiter an den
Gesetzen der „Moral“ versündigen können. Welche Aussichten!
W. D.