II, Theaterstücke 11, (Reigen, 0), Reigen. Zehn Dialoge, Seite 1158


Dr. Max Goldschmiet
Büro für Zeitungsausschnitte
Teleion: Norden 3051
BERLIN N4
Ausschnitt aus:
Berliner Börsenzeltung
25 HNr 192
Italienische Kunst.
Ein Dutzend Jahre nach der Pariser Uraufführung hat
nun auch die Scala in Mailand das dramatische
Mysterium „Die Leiden des Heiligen Seba¬
stian", Dichtung von Gabriele d'Annunzio, Musik von
Claude Debussy, zur Aufführung gebracht. Wie schon
damals das französische, so hat sich diesmal das italienische
Publikum herzlich und aufrichtig dabei gelangweilt. Aber
da es sich um das Werk ihres „Nationalhelden“ handelte,
haben die Italiener, die sonst keine Rücksicht zu nehmen
gewohnt sind und sie auch bei Künstlern wie Verdi und
Puccini nie genommen haben, diesmal gute Miene zum
bösen Spiel gemacht. D'Annunzio, der „Göttliche", saß
bei jeder Vorstellung in hoher Generalsuniform in einer
Loge und benutzte die günstige Gelegenheit, wieder einmal
allabendlich dem Publikum Kriegsreden zu halten, und das
nicht nur in den Pausen seines „Sebastian, sondern auch
in einer Vorstellung von Glucks „Orpheus“. Ein Wunder,
daß er seine Kanonen vom Gardasee nicht mitgebracht hatte.
Seiner Gewohnheit gemäß hat er alle möglichen Er¬
nennungen vorgenommen: Claude Debussy hat er zu
Debussy, der bereits
den Dirigenten, zu „König Artur".
tot ist, kann von der Großmut d'Annunzios keinen Gebrauch
mehr machen, und wie Toscanini die Sache aufgenommen
hat, weiß man nicht. Im allgemeinen liebter solche Schau¬
stellungen sehr wenig, da er ein viel zu ernster Mensch
und Künstler ist.
Deutsche Künstler treten aus begreiflichen Gründen
zur Zeit sehr wenig in Italien auf. Auch die Berliner
Chorkonzerte im
Singakademie, die einige große
„Augusteo“ in Rom absolvieren sollte, hat vernünftiger¬
weise abgesagt, und statt dessen hat Pietro Mascagni
drei Symphoniekonzerte dirigiert. Es waren bunte Pro¬
gramme, in denen neben Beethovenschen Symphonien
Wagnersche Musik und italienische Opernouvertüren bunt
vereint waren. Nach der Eroica das Intermezzo aus
„Cavalleria rusticana“ zu ertragen und zur Wiederholung
zu verlangen, dazu gehört schon ein italienischer Musik¬
magen. Es war natürlich ein gut Teil Patriokksmus dabei
im Spiele, und die Rufe „Es lebe die italienische Musik“
waren nur Ausdruck derselben Empfindung, die die Musik¬
kritiker veranlaßte, das Mascagnische Intermezzo mit
Händels „Largo“ zu vergleichen und keinen nennens¬
werten Gradunterschied zwischen Beethoven und Mascagni
zu finden. Mascagni, der bekanntlich seit Jahren als Dirigent
durch die Lande reist und besonders freundliches Entgegen¬
kommen in Deutschland und Oesterreich gefunden hat, hat
ich dann auch interviewen lassen über seine Eindrücke im
Auslande. Man muß es ihm lassen, daß er sich sehr ehrlich
und offen ausgesprochen hat. Und wenn er schließlich an
der deutschen „Rigoletto“=Auffassung Anstoß nimmt, so ist
das Geschmacksache. Er bezeichnet die deutsche Tradition,
das Schlußduett zwischen Rigoletto und seiner bereits er¬
stochenen Tochter fortzulassen, als haarsträubend, vergißt
aber dabei, daß Verdi trotz aller schönen Musik mit diesem
Duett doch nur eine Konzession an den damaligen
Publikumsgeschmack gemacht hat, eine Konzession, die heute
geradezu unmöglich und lächerlich ist. Aber im übrigen
zählt Mascagni zu den Künstlern, die sich von der Politik
fernhalten. Das beste Vorbild hat er ja an seinem Freunde
Puccini gehabt, der nur Künstler sein wollte und der das
politische Geschwätz und Gehetze haßte.
Auffallend ist, welche großen Fortschritte in Italien
plötzlich die „öffentliche Sittlichkeit“ macht. Die Polizei¬
Zensur ist eifrig am Werke, alle Druckschriften zu beschlag¬
nahmen, die irgendwie mit den staatlich anerkannten und
angeordneten Sittengesetzen in Widerspruch stehen. Des¬
halb wunderte man sich als Kenner nicht ohne Grund, daß
Rom
moderner Kunstbühne
auf
in
745
Bragaglias
Schnitzlers „Reigen“ aufgeführt werden konnte.
Man wundert sich aber nicht mehr, daß nun, nachdem alle,
die sich dafür interessieren, das Stück haben sehen können,
ein Verbot herausgekommen ist. Den kleinen Mädchen
wird das Tanzen verleidet, den Dichtern werden die Verse
beschlagnahmt, und auf der Varietsbühne bekleidet man
wahrscheinlich weil Italien nicht
sich mehr und mehr —
mehr weiß, was es mit seinem Bevölkerungsüberschuß an¬
fangen soll. Die Regelung des gesamten Kunstlebens ist
an die italienische Autovengesellschaft übergegangen, die
jetzt so gut wie staatlich ist. Und so werden die Autoren
versündigen können. Welche Aussichten: Ob wohl die
box 18/3
11. Reigen
übrige verderbte und verkommene Welt einer faszistisch
gereinigten Kunst wird widerstehen können?
W. D.