II, Theaterstücke 11, (Reigen, 1), Reigen: Frankreich, Seite 74

11. Reigen
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„OBSERVER
I. österr. behördl. konzessioniertes
Unternehmen für Zeitungs-Ausschnitte
WIEN, I., WOLLZEILE 11
TELEPHON R-23-0-43
Ausschnitt aus
Neue Fieie Pfesst, Hien
- 8. OKT.
vom:
Theater= und Kunstnachrichten.
(Schnitzlers „Reigen“ in Paris.) Aus Paris schreibt
uns ein gelegeutlicher Mitarbeiter: „Komm mit mir, schöner
Matrose, ich wohn' nicht weit, in der Rue de la Fayencerie ...“
Das flackernde Licht am dünnen Laternenpfahl warf seine
gespenstischen Schatten auf eine schmucklose Bogenbrücke in der
Windung eines schmalen Flusses, der ganz und gar nicht der
Donau gleich, doch auch die Seine kaum darstellen konnte. „Rue
de la Fayencerie“ mit ihrem so täuschend französischen Namen ist
undenkbar in Paris und entspricht auch nicht dem Wiener
Straßennamen „Porzellangasse". Im zweiten Bühnenbild war
eine Heurigenschenke in einem „Bal Musette“. In dieser Auf¬
führung von Schnitzlers „Reigen“ im Pariser Théätre
de l'Avenue verwoben sich überhaupt Wien und Paris zu
einer Phantasiestadt, deren Symbolik indessen dem Schnitzle¬
rischen Geist, wenngleich gewissermaßen aus dem Naturalistischen
ins Sinnbildliche übertragen, gerecht wurde. „Das ist es gerade,
was ich mit meiner Regie erreichen wollte“, erklärte mir Gregor
Pitoeff. „Der „Reigen“ von den Oesterreichern als boden¬
ständig wienerisches Stück aufgefaßt, ist für mich der tolle Tanz
der Triebe, der überall gleich wahr ist, in allen Zeiten und bei
allen Rassen. Wiener Anklänge habe ich durchaus nicht aus¬
gemerzt, doch hielt ich es für richtig, die Inszenierung ins Fran¬
zösische, richtiger vielleicht ins allgemein Menschliche hinein¬
zuspielen. Den hochadeligen Offizier in den letzten zwei Bildern
habe ich deshalb auch nicht als einen österreichisch=ungarischen
Kavalleristen, sondern als den Offizier aufgefaßt, was auch in
seiner Phantasieuniform zum Ausdruck kommt.“ Aus dieser Auf¬
fassung Pitoeffs kann man sich erklären, daß wir in Ludmilla
Pitoeff ein „süßes Mädel“ zu sehen bekamen, mit einem
der Wienerin durchaus fremden herben Zug: lächelnd, blond,
geschmeidig, doch nicht sonnenhell leuchtend, eher schwermütig —
mit einem unverkennbar russischen Einschlag. So verwischt sich die
Lokalfarbe der Figuren in dieser eigenartigen, jedenfalls hoch¬
interessanten Interpretierung, sie werden zu Symbolen ihrers#
Klassen, und das unbarmherzige Wiener Sittenporträt aus der Zeit
vor dreißig Jahren widerspiegelt nun das zuckende Liebesspiell
und Liebesleben der Gegenwart. Die Inszenierung hat der
Bühnenmoral vollauf Rechnung getragen. Pitoeff gelang es trotz
peinlichster Beibehaltung des Textes, dessen kongeniale Ueber¬
tragung wir Frau Susanne Clauser verdanken, durch originelle
szenische Lösungen dem Stück einen nahezu bourgeoisen
Charakter zu verleihen. Das Premierenpublikum empfand sicht¬
liche Erleichterung, als im kritischen Augenblick der junge Mann#
mit dem Stubenmädchen plötzlich die Zimmerwand mit dem
Diwan umdrehte und das Paar wie hinter einer spanischen Wand
verschwand. Als sich vor das Chambre séparée ganz unauffällig
eine weiße Leinwand senkte, bemalt mit köstlichen Karikaturen
wüster Negergelage, deren Gestelten sich im Spiel der Reflektoren
wie lebendig gebärdeten, als das Gartenhaus der Schau¬
spielerin während ihres Idylls mit dem Schriftsteller langsam aus
der Erde emporwuchs, oder als aus dem unsichtbaren Boudoir
der gefeierten Künstlerin ein drolliges Pudelhündchen schamhaft
bis an die Rampe herausgetrottelt kam, da bewiesen die
spontanen Beifallsspenden, daß Pitoeff den Pariser Theater¬
besucher richtig beurteilt hat. Bis in die kleinsten Details war
die Vorstellung durchdacht und ausgefeilt, und dadurch, daß
sämtliche Frauenrollen von Ludmilla Pitoeff gegeben wurden,
erschienen die Bilder und Gestalten noch enger miteinander ver¬
kettet. „Nur so ist es möglich“ meinte die Künstlerin, „zum
Ausdruck zu bringen, daß diese fünf Frauen mit ihrer grund¬
verschiedenen, einander in keiner Weise gleichenden Lebens¬
einstellung, die Klassenstolz und Vorurteil mit sich bringen, durch
einen wesentlichen Zug, durch ihr Frauentum, verbunden sind
und in zehn verschiedenen Lebenslagen immer das eine, gemeinsame,
gleiche Frauenschicksal versinnbildlichen.“ Ein einzigartiges und
lehrreiches Experiment, das sich nur ein so kongeniales
Künstlerpaar wie die Pitoeffs erlauben durfte.
A. Hartmann.