II, Theaterstücke 11, (Reigen, 1), Reigen: Frankreich, Seite 82

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11. Reigen
„OBSERVER'
I. österr. behördl. konzessioniertes
Unternehmen für Zeitungs-Ausschnitte
WIEN, I., WOLLZEILE 11
TELEPHON R-23-0-43
Ausschnitt aus:
Reichs Wien
vom: „ 9. OKT. 1882
„Im weißen Rößl“ in Paris.
Und allerhand anderes.
Von einer Oesterreicherin in Paris.
Paxis, 4. Oktober. Tanz auf Tanz, mit immer neuen Kostümen in neuen
Mit 1. Oktober hat die Pariser Herbstsaison begonnen.
Farben, Szenenbild auf Szenenbild mit immer neuen
Die Schulen tuen ihre wohltätige Pflicht und befreien
kostspieligen Details, Sensation auf Sensation, wie:
Autobusse, ein Zug des Salzkammergutbähnle, ein Gummi¬
„die Eltern von der ständigen Sorgenlast: „Was wird das
Kind jetzt wieder anstellen?.
, so daß sie endlich dazu
radler mit einem lebendigen Pferd, Segelboot, Dampfer,
kommen, auch wieder an sich selbst zu denken. Die Schar
Ziegen, Kühe, die man wirklich melken kann, Hunde und
der Fremden kommt wieder
ja, es geht uns allen
ein Gewitter, an sich vorüberziehen sehen, so kommen die
schlecht, und daheim ist es so furchtbar, daß man ins Aus¬
Pariser aus dem Staunen nicht heraus, wieso man, das
kand fahren muß, um sich zu erholen, — und es ist eine
mit „nur" zwei Millionen machen konnte. Die Handlung
Tatsache, daß die schönsten und luxuriösesten Automobile
geht vollständig unter in diesem Reichtum an Schmuck.
Georges Milton, den man auch in Wien als König
entweder englischer oder deutscher Herkunft sind.
Atempo hat auch schlechtes Wetter und ein Wirbelsturm
der Schuhputzer sowie der Gratisblitzer kennengelernt hat
und der sich in Paris des Spitznamens „Bouboule“
an der Cote d' Azur bewirkt, daß alle, die den schönen
September fern von der Stadt genossen haben, nun wieder
erfreut, ist diesmal aus seiner königlichen Höhe herab¬
eiligst Paris zustreben. Mit einem Schlag hat sich das
gestiegen, um ein „Maitre d’Hotel“ namens Leopold zu
Bild geändert, es wird wieder sehr schwer, sich durch den
werden. Auch das war eine der großen Sensationen des
Abends und Maurice Chevalier, der, wie man erstannt
noch vor kurzem so schütteren Verkehr durchzuzwängen.
bemerkt, sich aus der Nähe so gar nicht ähnlich sieht, be¬
Die großen traditionellen Abonnementskonzerte, wie
Pasdeloup und Lamoureux, beginnen wieder und die
trachtete Milton von den ersten Parkettreiben aus ein¬
Theater öffnen eines nach dem andern ihre Pforten.
gehendst über seine auch noch kritisch vorgeschobene Unter¬
lippe. Georges Milton hat zwar gar keine Stimme, aber
Es gibt viel Neues und Interessantes zu sehen und
sehr viel Scharm und Temperament; trotzdem ist er, eben
zu hören. So wird nun das große Orchester, das sich
weil er einen spezifisch pariserischen Typ darstellt, kein
der Filmmagnat Nathan hält, mit seinen Wochen¬
Leopold, wie man sich ihn vorstellt, kein Leopold, den man
konzerten den Abonnementskonzerten Konkurrenz machen.
gemütlich Poldl rufen kann. Schade auch, daß die pikanten
Es ist dies das Orchester, das bei den Pathé=Nathan¬
Filmen die musikalische Partie besorgt, und es ist all- blassen Gesichtchen der Pariserinnen so gar nicht in die
gemein aufgefallen, mit welch ausgezeichneter Technik und Dirndltrachten hineinpassen; Charell hat sich zwar für die
künstlerischem Verständnis die musikalische Untermalung Figurantinnen die massivsten ausgesucht, aber es fehlt
dieser Filme ausgeführt ist. Wem dies gefallen hat, der ihnen die erfreuliche pausbäckige Gesundheit der echten
kann sich nun das Orchester ohne störenden Film anhören: Dirndln. Die bayrische Schuhplattlerrruppe, die Markart¬
wer hingegen sich für das Orchester begeistert, der wird steiner, stechen durch ihre urwüchsige Bärenstatur hervor,
und tanzen Schuhplattler und Watschentänze, daß es nur
nicht verfehlen, sich die Filme anzusehen, die von diesem
so knallt vor Taktfestigkeit und Disziplin, bis das Publi¬
begleitet werden. So macht eines für das andere Reklame.
Sie ist um so wirksamer, als die Qualität dieses Orchesters
in Paris einzig dasteht, und besonders die Geigen, ein
schwacher Punkt der anderen französischen Orchester, durch
Weichheit und Wohlklang überraschen. Die Disziplin ist
RADIO %
selten gut und beim Scherzo aus dem „Sommernachts¬
APPARATE
traum“ verspürt man sogar einen Hauch toskaninischen
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S
Geistes. Die Konkurrenz dieses Orchesters wird für die

anderen Konzerte recht fühlbar werden, die nicht über so
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hervorragendes Material verfügen und auch nicht so

wirksam in Szene gesetzt werden.
Im Théatre de l'Avenue hat es das Ehepaar Pitdeff.
unternommen, Schnitzlers „Reigen“ aufzuführen.
GOLDSCHMIED)
Es ist allerdings ein#etwas verfülschter Schnitzter, der dem
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erstaunten Paris da geboten wird: Schnitzler, mit
Ox
moderner Sachlichkeit gespielt, wird zu einer Persiflage
auf den ursprünglichen Schnitzler. Es gelingt nur der
Angrunsees?
Sheren
großen Kunst Ludmilla Pitoeffs, über die Längen und
O
die Eintönigkeit des Stückes hinwegzutäuschen, das nur
ELEKTRO

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1
durch einige reizende Regieeinfälle, die deutlich aus der
MATERIAL

Wien=Berliner Schule stammen, belebt wird. Die Typen
WERKZEUGE
aus dem alten Wien, die Schnitzler auf die Füße stellt,
entbehren in Paris aller Lebendigkeit. Und, wie ein
geistreicher Franzose sagte: „Das Stück wurde in Wien
kum in tobenden Beifall ausbricht. Die wackeren Bayern
zu früh geschrieben und in Paris zu spät aufgeführt.
kommen direkt aus ihrer Heimat.
Die Konjunktur der Erotik ist vorüber. Man hat, auch
Mit der Musik wird sehr willkürlich umgegangen.
in Paris, genug davon.
Man ist etwas überrascht, mitten im „Weißen Rößl“ einen
Besonders deutlich zeigt sich dieser Konjunktur¬
alten Bekannten anzutreffen: den „Kleinen Gardeoffizier“
umschwung in der jubelnden Begeisterung, mit der man
dessen Abschiedslied Milton mit viel Schwung tanzt,
in Paris das „Weiße Rößl“ aufnimmt, das
begleitet und unterstrichen von einer ganzen Reihe von —
kürzlich im Théatre Mogador seine Premiere feierte. Die
Oberkellnern, die plötzlich aus dem kleinen Gasthaus
ein
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