II, Theaterstücke 11, (Reigen, 1), Reigen: Frankreich, Seite 94

mitere Pitdeffs, glucklich, daß ein jüngerer Kol¬
lege sich zum „Reigen“ bekannt hat und gespannt
zu erfahren, auf welche Weise er der Sache bei¬
gekommen ist.“
Diese offene Erklärung des großen Antoine
wirkte innerhalb der Pariser Theaterwelt gerade¬
zu sensationell und die Zeitungen bestürmten
Pietoff, er möge ihnen die Details seiner Insze¬
nierung verraten. Es mußte etwas Außerordent¬
liches sein: ein Werk, dessen Schwierigkeiten selbst
den kühnen Antoine zurückgeschreckt hatten! Und
in der Tat, es wurde etwas Außerordentliches!
Pitoeff verriet vor der Aufführung zwar nichts
über seine eigene Arbeit, aber er sprach von
seiner Beziehung zu Schnitzler und zum
„Reigen“:
„Schnitzlers Werk ist mir durchaus vertraut.
Ich habe alle seine Schriften in meiner russischen
Heimat gelesen. Es war immer mein Traum,
gerade den „Reigen“ aufzuführen, denn ich liebe
dieses Werk ganz besonders. Warum sollen diese
zehn Bilder anstößig oder gar unsittlich sein?
Zehn Menschen treibt der Hunger nach Glück, die
enttäuscht zurück: in einer flüchtigen Umarmung
haben sie nur ein Trugbild der Liebe kennen ge¬
lernt. Frivol, anstößig, könnte nur eine allzu
veristische Inszenierung wirken.“
Dieser Gefahr ist Pitoeff allerdings mit be¬
wundernswerter Kunst ausgewichen. Seine In¬
szenierung ist niemals „realistisch“. Sie bringt
die zehn typischen Situationen in einem stilisier¬
ten Rahmen, der die einzelnen Dialoge gleichsam
aus der realen Sphäre in eine symbolische hinauf¬
hebt. In phantasievoller Weise versteht es Pitoeff,
die Dialogstellen szenisch zu gestalten, die im Buch
durch Gedankenstriche ausgedrückt sind. Hier liegt
für jede Bühnendarstellung des „Reigen“ natur¬
gemäß die Hauptgefahr, die in der Pariser Auf¬
führung allerdings als gar nicht vorhanden er¬
scheint. Durch verschiedene Arrangements, man
könnte fast sagen Tricks, gelingt es Pitoeff, das
Liebespaar immer in dem heikle Moment den
Augen des Publikums zu entziehen.
Ein Beispiel möge dies verdeutlichen: Das
zweite Bild (Der Soldat und das Stubenmäd¬
chen). Wir sehen vor uns die Front eines schäbi¬
gen Hotels; durch die geöffneten Fenster blickt
man in den hell erleuchtenn Tanzsaal. Eng um¬
schlungene Paare schieben sich durch den Raum,
eines von ihnen, der Soldat und das Stuben¬
mädchen. Nach den ersten Worten verschwinden
die beiden und einige Sekunden darauf flammt
das Licht in einem Kellerfenster auf. Dorthin hat
der Soldat das Mädchen verschleppt, dort ver¬
führt er sie. Nun sieht man nur mehr die tan¬
zenden Paare im Ballsaal; nach kurzer Zeit aber
taucht das Liebespaar im Keller wieder auf und
der Dialog wird zu Ende geführt. — Oder das
achte Bild: (Der Dichter und die Schauspielerin.)
Wieder haben wir vor uns die Front eines
Hauses, und zwar eines scheinbar ebenerdigen.
Wir folgen dem Gespräch der zwei Menschen bis
zu dem Moment der Gedankenstriche. In diesem
Augenblick hebt sich das Gebäude, das untere
Stockwerk wächst aus dem Boden heraus und das
Liebespaar ist unsichtbar geworden.
Es ließe sich viel über die geradezu unerschöpf¬
liche Erfindungsgabe des Regisseurs Pitoeff
sagen, aber da die Möglichkeit besteht, daß das
Wiener Publikum die Pariser Inszenierung des
„Reigen“ im Verlauf eines Gastspiels des
Pitoeffschen Ensembles kennenlernt, wollen wir
den lebendigen Eindruck der Aufführung nicht
durch Beschreiben vorwegnehmen. Nur noch ein
Wort über die schauspielerischen Leistungen.
Außerordentlich die der Frau Ludmilla Pito¬
eff, die alle fünf Frauenrollen der Dialogreihe
verkörpert, ein Wagnis, dessen völliges Gelin¬