II, Theaterstücke 10, Das Vermächtnis. Schauspiel in drei Akten, Seite 64

box 16.72
10. Das Vernaechtnis

fester Hand und in nicht mißzuverstehender Weise.
braucht Liebe, und da sie nach dem Ableben ihres Kindes, kann. Zu viel, da die von jeder seiner Personen hervor¬
Zweierlei Moral zugleich gibt es nicht. Francisca hat
welches das einzige Bindemittel zwischen ihr und Losatti's geholten Erinnerungen den Dialog beschweren und die
nur für den Augenblick Recht, in dem sie ihren he zlosen
war, aus dem Hause muß, geht sie ins Wasser. So Handlung verzögern; zu wenig, da die mitgetheilten
Bräutigam heimschickt mit den flammenden Worten:
Erlebnisse nicht hinreichen, um die Handlung begreiflich,
wenig wir im Schauspiel die Todesursache bei dem
„Nein, sie (Toni) war nicht die Sünde — es ist nicht
Kinde begreifen, so wenig leuchtet uns der ver¬
wahr — so schaut die Sünde nicht aus Was einen guten
Arienentet en unente¬
zweifelte Entschluß seiner Mutter ein. Konnte Toni die
Menschen so glücklich macht, kann nicht die Sünde sein.“
ist das tendenziöse Sittenstück getreten, und der Zu¬
Katastrophen der zwei vorhergehenden Acte ertragen, so
Recht behält ihr Vater, der eitle Mann des Scheines, mit
schauer, der sich für keine der ihm vorgeführten Figuren
konnte sie auch die Enttäuschungen des dritten überleben.
der sleptischen Frage: „Woher willst Du wissen, wie die
besonders erwärmen kann, fühlt sich herausgefordert, für
Dreimal müssen wir uns als Zuschauer mit der gewalt¬
Sünde ausschaut?“
oder gegen Ansichten Partei zu nehmen, die wahr¬
samen Lösung complicirter Umstände befreunden, auf die
Frau Hohenfels hat mit den letzten Worten
scheinlich nickt einmal die des Dichters sind.
wir nicht vorbereitet waren, und die Versicherung des
Franciscas, die sie wie einen feurigen Protest gegen alle
Das Kunstwerk gleitet aus dem Poetischen ins
Dichters, daß das Schicksal immer acht Tage Zeit hatte,
Politische hinüber, und das reine Wohlgefallen
Engherzigkeit, Unduldsamkeit und Niedertracht hinaus¬
dem Tode die Sense zu schärfen, sendet unsere Phantasie
an dem Dargestellten wird von der Frage abgelöst, wer
schleuderte, den Erfolg des Schauspieles entschieden
während der Zwischenacte auf Reisen.
Es war einer jener Momente, die nur im Leben des
Recht hat. Parteilos, wie er es sein sollte und wohl
Wir träumen uns in die Vergangenheit Hugos
Genies vorkommen, wo Eingebung und Entladung
auch wollte, vermochte der Dichter nicht zu bleiben.
und Tonis zurück und verlieren uns noch weiter in das
auf einen Schlag zusammenfallen. Herr Hartmann
Auf dem Theater kommt es weniger darauf an, was
Vorleben ihrer beiderseitigen Eltern. Wie Losatti der
gab den Professor Losatti mit einer Naturtreue, die halb
gesagt wird, als wer etwas sagt, und da trifft
Gatte der Frau Betty, Professor der Nationalökonomie
belustigte, halb erschreckte. Man hat diesen unausstehlich
es sich eigen, daß hier gerade die symvathisch
und Reichsrathsabgeordneter wurde, wie dieser ver¬
liebenswürdigen, schäbig nobeln Phrasenhelden schon oft
geschilderten Charaktere, wie Francisca, die Schwester, und
zärtelte Günstling des Glückes sich allmälig zu dem
gesehen, wo war es doch zuletzt, in welchem Salon,
Emma, die Tante Hugos, der Verletzung der guten Sitte
schlanken Egoisten entwickelte, der seine Kinder aus
in welcher Sitzung? Die Bühne verdankt Schnitzler
das Wort reden müssen, die in dem Windbeutel „Losatk“
Bequemlichkeit verzog und sein Gewissen mit selbst¬
eine neue Figur, der Schauspieler eine seiner besten Rollen.
und dem intoleranten Dr. Schmidt, dem Bräutigam
gefälligen Phrasen berauschte; und wie anderseits der
Frau Schratt lieh der unglücklichen Toni den Zauber
Franciscas, lächerliche und widerwärtige Vertheidiger
alte Magistratsbeamte Weber nach dem frühen
ihrer persönlichen Liebenswürdigkeit und den traulichen!
findet. Dennoch sagen eben sie fast immer das Richtige,
Tode seiner Frau einsam mit seiner Toni hauste,
Klang des Wiener Dialekts. Fäulein Medelsky gab
wälrend die Anderen sich von ihren augenblicklichen
wie er ihr mürrisch jeden Verkehr mit der gleichalterigen
ein hoffnungslos liebendes Mädchen mit ansprechender
Empfindungen zu Unbesonnenheiten verführen lassen.
Jugend abschnitt, wie er sie mit seiner eigensücht gen
Schlichtheit. Fräulei Bleibtreu machte durch allzu
welche für Freigeistereien gesiommen werden können Wir
Affenliebe verdarb und den Hang nach Abenteuern wider
schrosse Herbheit aus einer geprüften Frauenseele eine
wissen, daß die gesellschaftliche Moral variabel ist weil
seinen Willen in ihrer eingepferchten Seele nährte, wie er
hochfahrende Stolze. Herr Devrient wußte nicht recht,
sie nichts Anderes ist wie das jeweilige, sich täglich
seinen Schatz so lange vor Dieben bewahrte, bis der flotte
wohin er seinen Dr. Schmidt wenden sollte; Herr
mit den Bedürfnissen des Menschen ändernde Compromiß
Hugo ihn entführte und verschwendete — dies Alles und
Paulsen, der die fatale Aufgabe hatte, immer zur falschen
zwischen den Ansprüchen des Einzelnen und denen der
noch mehr sehen wir aus dem Stücke Schnitzler's
Zeit zu kommen und zu gehen, sprach seine undankbare
Gesammtheit. Und weil wir dies wissen, werden wir
heraus. Der Roman, den uns der Dichter vorenthalten
den Dichter nicht verdammen, der den inwendig Orientirungsrolle sehr gut, und Herr Treßler, der den
hat, wäre interessanter gewesen als das transparente
Schauspiel, das nur so viel von der Vergangenheit durch= jaulen und vermorschten Formen einer verhaßten Con= Hugo spielte, starb eine halbe Stunde nach allen Regeln
scheinen läßt, wie es für seine Gegenwart gebrauchen] venienz den Gnadenstoß versetzt. Aber er thue es mit der zur Kunst erhobenen Natur. Max Kalbeck.