II, Theaterstücke 10, Das Vermächtnis. Schauspiel in drei Akten, Seite 117

10. Das Vermaechinis
Das Vermächtniß.
Schauspiel in drei Akten von Arthur Schnitzler.“
(Erste Aufführung im Deutschen Theater am 8. Oktober.)
Es war eigentlich wunderbar, daß Schnitzlers neuestes
Schauspiel einen so unbestrittenen und einen so starken Beifall
hatte. Besonders auffallend war die stürmische Beifalls¬
kundgebung nach Schluß des dritten Aktes, denn unleugbar
war die Stimmung der Zuhörer in diesem Akte einige Male
bedenklich nahe am Umschlagen. Und das nun war hin¬
wiederum kein Wunder, denn gerade dieser Akt hat so hand¬
greifliche Schwächen, daß die Verstimmung des Publikums
durchaus begreiflich erschien. Was dennoch zum Beifall
stimmte, war wohl eher die freudige Empfindung, daß in all
die Halbheit und all den theils ängstlichen, theils brutalen
Egoismus, der bis fast zum Schluß des Stückes das Handeln
beinahe aller Personen beistimmt, endlich ein befreiendes,
muthiges, offenes Wort fällt und die aufgespeicherte Gespannt¬
heit lost. Es war die Sympathie für die warme Antheil¬
nahme, die der plaidirende Verfasser den anständigen Per¬
sonen des Stückes entgegenbringt, der Dank für manch schönes
und tiefes Wort, nicht aber der Ausdruck der Befriedigung
über ein wohlgelungenes Kunstwerk.
Der Vergleich mit einem plaidirenden Vertheidiger trifft
Schnitzlers Eigenart in mehr als einer Beziehung. Der An¬
geklagte dessen Sache er mit inniger Theilnahme des Herzens
führt, ist wieder das Recht des Einzelnen, der mit der gesell¬
Ein Recht auf Glück
schaftlichen Moral in Konflikt geräth.
hat ein jeder Lebende, und dieses Recht sich zu nehmen, wenn
die Gesellschaft es verweigern will, ist nicht Sünde,
sondern gut und richtig. Toni Weber, die Tochter eines
strengen Pflichtmenschen, eines Magistratsbeamten, und
Hugo Losatti haben nach dieser Moral gehandelt. Toni
gegen den Willen des Vaters dem Manne ihrer Liebe ge¬

folgt und hat, schweren Herzens, aber ohne Bedenken den
Fluch des Vaters auf sich aenommen. Fünf Jahre ist sie in
freier Hingebung Hugos Weib und eine zärtliche Mutter
seines Sohnes gewesen. Hugo hat in dem kleinen Heim, das
sie sich geschaffen das stille Familienglück gefunden, das er
im eigenen Vaterhause emtbehren mußte. Denn seine Eltern
leben gleichgültig neben einander hin. Der Vater, einer aus
dem weit in der Welt verbreiteten Geschlechte der Hjalmar
Ekdal, die Mutter, eine gute Durchschnittsfrau, dem Gatten
innerlich fremd, die zwei Kinder zärtlich liebend, im Grunde
ihres Herzens aber so egoistisch wie alle Durchschnittsmenschen,
aufopfernd nur für die Kinder, gutherzig, jedoch ohne Willens¬
stärke; die Schwester Franzi dem Bruder wohl herzlich zu¬
gethan, aber von ihm doch ziemlich über die Schulter an¬
gesehen als kleines unbedeutendes Ding, das sie aber in
Daß in dieser Umgebung Hugo
Wahrheit nicht ist.
mit seiner Glückessehnsucht sich nicht wohl fühlt,
Daß er von seinen Beziehungen zu Toni
begreiflich.
und von dem Kinde Niemandem Etwas mittheilt,
verstehen wir durchaus. Doch hat er Alles vorbereitet,
seinem Verhältnisse in der nächsten Zeit die Weihe der
staatlichen und kirchlichen Legitimirung zu geben, — da wird
er jäh aus dem Leben abberufen. Auf der Rückkehr vom
Rennen hat ihn das Pferd abgeworfen, und der Sturz war
so unglücklich, daß er nur noch wenige Minuten zu leben hat,
als er zu den Eltern hinaufgeschafft wird.
Hier beginnt das Stück. Von sicherer Ahnung des
nahen Todes erfüllt, weiht Hugo die Mutter in das Geheim
niß ein und nimmmt ihr das heilige Versprechen ab, Toni
und das Kind in ihr Haus zu nehmen und sie zu lieben, als
wäre sie seine Frau gewesen. In tiefer Erschütterung ver¬
spricht die Mutter, diesen letzten Willen des Sterbenden zu
erfüllen wie auch den weiteren Wunsch, die Beiden
Auch
an das Sterbebett Hugos rufen zu lassen.
es ihr jetzt gesteht,
Franzi, die längst schon, ehe er
des Bruders Geheimniß gewußt hat, gelobt, Toni wie eine
Schwester zu halten, und der schwadronirende Vater, der sich
mit aller Kraft gegen den Gedanken sträubt, der unbequeme
Tod könne in seine Bequemlichkeit greifen, giebt schließlich
ebenfalls dem Sohne das Versprechen. Loni erscheint, aber
nur für wenige Augenblicke erlennt Hugo sie. Als der vier¬
jährige Knabe, den man erst später holt, erscheint, decken den
Vater schon die Schatten des Todes. Toni unv das Kind
finden nun eine Heimath in Hugos Elternhaus: wie werden
die Angehörigen das Vermächtniß ihres geliebten Todten an¬
treten?
Von hier an wird die Konstruktion allzu deutlich sichtbar.
Akt zwei: Toni und das Kind werden sehr liebevoll auf¬
genommen, man sucht ihr das Leben möglichst behaglich zu
machen, man herzt und kußt den Kleinen, Losatti fühlt sich in
seiner Rolle als Großpapa sehr glücklich — glücklicher als der
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Kleine in der des Enkels — man ist sogar bereit, die ersten! bracht ist, — das ist ihm n
auf den szenischen Bau hat ei
Spuren einer gesellschaftlichen Boycottirung der Familie
es ist ein stetes Gehen und Kommer
lächelnd zu ertragen in Gedanken an Bubi und an das
er sie braucht, nicht nothwend
heilige Versprechen, mit dem man Hugos Vermächtniß ange¬
gängen selbst. Der Dichter ist zu
nommen hat. Ist das nun aber wirklich jene Liebe, die Hugo
seiner Sache. Das giebt mehreren
sich für die Geliebte und das Kind gewünscht hat? Hält man
aber es hindert andererseits die rech
die Beiden wirklich, als wären sie legitime Schwiegertochter
verstandesmäßige Klarheit gehört.
und Enkelkind? Grübelnd forscht Schnitzler in den Seelen. Können
inneres Erlebniß mit Nothwendigkeit
sich die Vertreter bürgerlicher Korrektheit wirklich zu einer
sondern zu einer ethischen Tend
freien That der Liebe entschließen? Wo ist der Prüfstein,
recht krasses, überzeugendes Bewe
daß diese Liebe echt und nicht lediglich verkappter Egois¬
Eindruck, den schon „Freiwild“, bis
mus ist?
auch „Liebelei“, und den jetzt „T
Und er findet einen solchen Prüfstein: den Tod des
Zu viel Feuilletonismus, zu wenig
Kleinen. Der kleine Franz muß sterben, nur um zu zeigen,
Dabei sind aber Figuren vor
wie jetzt die innerste Natur dieser ängstlichen korrekten Menschen
in dem Stücke, wie der Professor
sich offenberen wird. Den Vater hat man ja freilich von
lokaler Typus wie als Mensch in
Beginn an nicht ernst genommen, aber auch die Mutter er¬
Auch der Dr. Schmidt ist bis au
weist sich jetzt nicht als starker Charakter. Wenn sie sich über
Menschenportrait. Die Anderen
die Vorurtheile der Gesellschaft glaubte hinwegsetzen zu können,
Was dem Stücke
halten.
so gab ihr nur die Mutterliebe, die in dem Enkelchen den ge¬
Mittelpunkt, auf den sich di
liebten Sohn wiederfand, zu solchem Widerstand die Kraft,
könnten, — ein Held im alten Sir
nicht etwa selbstherrlicher Stolz und der Muth einer freien
Folge der ganzen Anlage des St
Seele. Denn als der Knabe gestorben ist und mehr
bedurftige Gestalt sein: eine so pas
wie je das Gerede der Leute sich mit Tonis Aufenthalt
immer nur zurückweicht, kann auf
im Losattischen Hause beschäftigt, da sucht sie, ängstlich auf
tische Theilnahme nicht fesseln.
ihren Ruf bedecht, von Tag zu Tag eifriger, den lästigen Gast
Die Darstellung war fas
loszuwerden und sophistisch ihr gegebenes Versprechen zu
erster Linie stand die glänzende L#
deuteln.
als Losatti, der bis auf einige Au
Akt drei zeigt dann die veränderte Lage der Dinge, die mit
den schwierigen Charakter so maf
Bubis Tod geschaffen ist. Das große Wort führt jetzt wie er der
zeichnet sein muß. Nicht minder g
Egoismus, der sich in der Gestalt des Hausarztes und
als Dr. Schmidt. Mit erschüttern
Freundes und Schwiegersohnes in spe Dr. Ferdinand
Lehmann die unglückliche Toni.
Schmidt verkörpert. Er ist ein streberischer, verknöcherter
nächst die Rolle der Franziska zu
Parvenu und bildet zugleich den Gegensatz zu Toni, die wie er
aber im letzten Akt ganz vorzüg
aus kleinen Verhältnissen kommt, aber in unbefangener Sehn¬
Pöllnitz, Frl. Elsinges, Frl.
sucht nach Glück unbeirrt durch gesellschaftliche Moralgebote
Hr. v. Winierstein, Hr. Rein
die Hände nach der bereiten Frucht ausstreckt, während ihn
trefflichen Leistungen das Ensemb
hinwiederum ein hartes Leben gelehrt hat, daß Genuß nur
heit fügte sich die Kleine, die das
die Frucht der Arbeit ist. Mit seinem ganzen Wesen haßt

dieser harte Pflichtmensch die leichtbeschwingteren Naturen, wie
Hugo und Toni, haßt er die lichte Lebensfreude, die
von An¬
ist
in ihnen naiv verkörpert. Er
beginn gegen Tonis Aufnahme in die Familie ge¬
als zukünftiger Schwiegersohn
wesen, denn er
und zugleich zukunftsreicher Arzt das größte Interesse daß der
Ruf der Losattis unangetastet bleibt. Mit dem Tode des
Kindes gewinnen seine Vorstellungen die nöthige Kraft: Hugos
Vater und auch die Mutter willigen in Tonis Entfernung,
jener glaubt, mit Geld sich von der Vollstreckung des Ver¬
mächtnisses loskaufen zu können, diese mit der Selbsttäuschung,
auch in Zukunft Toni mit Liebe zur Seite zu stehen. Dr.
Schmidt selbst erbietet sich, Toni den Entschluß der Familie
mitzutheilen. Ein letzter Versuch einer Verwandten des Hauses,
Toni das Einzige, was ihr noth thut, ein Heim,
zu geben, scheitert, weil die Tochter sich dagegen sträubt.
So ist Toni gänzlich heimathlos, und in ihrer völligen Ver¬
zweiflung sieht sie nur den Weg zum Tode vor sich, den Weg,
den auch Christine in „Liebelei“ gegangen war. Nun aber er¬
eignet sich etwas Unverhofftes, und in dieser Schlußwendung liegt
die Tendenz des ganzen Stückes und zugleich eine scharfe Ge¬
sellschaftssatire. Franziska, die Haustochter, um deren Seelen¬
heil die Eltern und Dr. Schmidt, ihr zukünftiger Gatte, ganz
besonders besorgt waren, als sie den Plan zu Tonis Ent¬
fernung schmiedeten, sie beweist jetzt den um ihre Sittlichkeit
Bemühten, daß gerade Das, was sie vermeiden wollen, das
einzig Sittliche wäre. Sie tritt feurig für die Moral ein,
die ihre Vormünder bekämpfen. Toni ist die, der ihr Bruder
seine Liebe geschenkt hat, und der er für so viele Stunden
reinen Glückes zu Dank verpflichtet ist: sie, nicht das Kind
allein, hat er als Sterbender den Eltern ans Herz gelegt.
Das Vermächtniß ist heilig, und es bleibt unausgeführt,
Tonis Tod wird
wenn man jetzt Toni hinausstößt.
als schwere Schuld auf dem Hause Losatti lasten. Das
Alles sagt Franziska ihren Angehörigen, dann aber wendet
sie sich gegen ihren Verlobten und sagt sich von ihm und seiner
kalten Wohlanständigkeit los. Das Wettern des Vaters gegen
den kindlichen Ungehorsam nützt nichts, Franziska bleibt fest.
Der engherzige Egoismus weiß nichts gegen die Moral des
Herzens einzuwenden, die das muthige Mädchen verkündet hat.
Diese Tendenz des Stückes ist dem Dichter die Haupt¬
sache gewesen. Wie unwirklich der erste Akt ist, da am Sterbe¬
bett Hugos die ganze Exposition gegeben wird, wie zufällig
und konstruirt der Tod des Kindes im zweiten, wie über¬
trieben der Gegensatz der Weltanschauungen im letzten Akte,
namentlich in der Brutalität des Doktors, zu Tage ge¬