II, Theaterstücke 10, Das Vermächtnis. Schauspiel in drei Akten, Seite 165

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10. Das Vermaechtnis
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Ausschnitt
J410
„OBSERVER“ Nr. 41
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Ausschnitt aus:
Vorwarte, Sechn
vor 10/
Kumerkungen zum modernen
Bühnenstil.
In Hamburg sah ich vor Jahren eine Aufführung von Ibsens
Gespenster“. Natürlich nicht im Stadttheater, das damals von
deit Börsianer Pollini sozusagen „geleitet“ wurde. Herr Pollini
hielt Jbsen für ein schlechtes Papier und so war er ganz konsequent,
wenn er nicht damit handeln wollte. Die „Gespenster“ mußten
durch eine bescheidene Hinterthür in Hamburg hereingelassen werden.
Eine Theaterschule führte sie mit ihren Schülern auf.
An der Spitze des Instituts stand ein ehemals recht bekannter
Hofschauspieler der alten Generation. Daß er im „alten“ nicht
untergegangen war, beweist allein die Thats.che, daß er für Ibsen
einen offnen Sinn und ein offnes Herz hatte. Im „neuen“ aber
war er — soweit die Schauspielkunst in Frage kam — noch weniger
untergegangen und so gab er die „Gespenster“ zwar modern¬
natürlich, aber doch mit den schweren Accenten, die eine schwere
Tragödie nicht sowohl erträgt, als vielmehr fordert. Der Eindruck
war überaus stark, wenigstens bei mir.
Wenige Wochen nach jener Aufführung brachte das Berliner
Residenz=Theater die „Gespenster“ nach Hamburg. In seinem Ensemble
kfanden sich sehr klangvolle Namen, so Rudolf Rittner und Rosa
Pertens. In der Aufführung hat ganz gewiß undendlich viel mehr
Hine und sichere Kunst gesteckt, als in jener Vorstellung, die unter
ider Leitung eines alten Hofschauspielers von Schülern gegeben wurde.
KTrotzdem blieb die Wirkung weit hinter jener ersten Aufführung
zurück. Wie eine rasende Jagd zog das Ganze vorüber. Da wurde
#s# elegant und flott gesprochen, wie in einem französischen Schwank,
2 wo es gilt, die Leute nicht zur Besinnung kommen zu lassen. Die
Farben der Dichtung wurden durch die leichte Konversation verwischt,
For
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100 kund ich begriff den Mann nicht recht, der mir das nachher als
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„natürlich“ sehr warm empfahl.
Inzwischen habe ich manches begreifen gelernt, auch die moderne
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„Natürlichkeit“ die manchmal gar nicht „natürlich“, sondern eine sehr
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komplizierte und gelegentlich wohl auch raffinierte Sache ist. Der
Deutlichkeit zu Liebe will ich meine Ansicht an einem konkreten
Abonne
Beispiel auseindersetzen.
Abonne
Als Kainz seiner Zeit im Deutschen Theater den Faust spielte,
fiel die Art und Weise auf, wie er eine berannte Stelle schauspielerisch
behandelte. Es handelte sich um die Worte:
.. . . Nenns Glück! Herz! Liebe! Gott!
Ich habe keinen Namen
Dafür! Gefühl ist alles;
Name ist Schall und Rauch,
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Umnebelnd Himmelsglut!“
Kainz streichelte hier Grethchens Wangen, seine Augen leuchteten
vor Glück und mit der seligen Leichtigkeit des zubekümmerten Lieb¬
habers sprach er die Verse. Das war gewiß geistreich und ich meiner¬
seits habe mich umsomehr darüber gefreut, als sein Faust sonst keinen
tieferen Eindruck hinterließ. Die philosophischen Verse so ganz
und gar in leichte Liebesverse umzuwandeln, war, wie
gesagt, ein geistrecher Gedanke, zugleich aber war es ein Gedanke
von so ätzender Schärfe, daß er die wunderbaren Verse
Gerade Kainz versteht ganz ausgezeichnet, die Ver eie Dichtung
aus der sozusagen abstrakten Deklamation in die Sphäre des mensch¬
zichen Geschehens herabzuholen und das ist ein Verdienst, so ehrlich
eins. In der er¬
und schwerwiegend wie nur irgend
wähnten Seene aber schlug sein Vorzug in einen Fehler um.
Er gab eine geistreiche Einzelheit auf Kosten Goethes und
so gewiß ich mich über die Einzelheit an sich freute, so gewiß ist
es daß in diesem Augenblick Goethe zu keinem Menschen im
Theater sprach, auch zu mir nicht. Wenn aber Goethe nicht zum
Publikum spricht, bleibt die Wirkung aus, wie viele Künste sonst
auch an die Dichtung verwendet werden mögen. Kainz hat nicht
die Aufgabe, diesen oder jenen Gourmand zu erfreuen, sondern soll
vor allem den Fanst zur Geltung bringen, wenn er den Faust spielt.
Mit der modernen „Natürlichkeit“ verhält es sich etwa so: sie ist
zu einer Natürlichkeit für Gourmands geworden. Es ist sehr hübsch,
den Mund nicht voll zu nehmen, es ist sehr hübsch, wie ein Mensch