II, Theaterstücke 10, Das Vermächtnis. Schauspiel in drei Akten, Seite 171

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10. Das Vernagchtnis

Berliner Theater. ¼
eingeflochtenen Betrachtungen, welche er seinen fran= then soll, auch gehalten. Dann aber stirbt der kleine
zösischen Meistern nacherzählte, dem Wiener Boden Franz an einer Kinderkrankheit und nun lat der
(Original=Feuilleton des „Neuen Dester Joumal=) # entsprossen seien; er merkte es gar nicht, daß er junge Arzt, der als hartherziger Emporkömmling
Die Riesenmaschine ist im Gange. Dem abend= eigentlich seine eigenen Werke aus dem Französischen sein Behagen am Genusse der Ehren einer Patrizier¬
lichen Zerstreuungsbedürfnisse der Berliner bieten ins Deutsche übersetzte. Die „Soppho“ Daudet's in existenz nicht gestört sehen will, Oberwasser. Man
sich neunzehn Theater mit den ältesten und den jugendlicher Ausgabe und ihre Schwestern geriethen schickt Toni fort, und die Verzweifelnde endet durch
neuesten Künsten der Bühne dar, ungerechnet die ihm zum Wiener „Mäderl“, und wenn er in Selbstmord. „Wir haben Gnaden erwiesen und
vielen Dutzende von Artistenbühnen, Chantants d „Liebelei“hen Doppeladler=Marsch aufspielen ließ,
wir hätten nur gut sein sollen.“ Mit dieser Klage
Konzerten. Jeder Geschmack, jede Laune kann iyresso glaubte er schon in der Herzenssprache den echten, kündet die weinende Franziska die These der Ko¬
Befriedigung finden, und wie bei einem Wettrennen unverfälschten Wiener Dialekt gefunden zu haben. mödie. Ein Stück in drei Akten mit drei Leichen!
jagen die Bühnenleiter, ihre mächtigen Reklame¬
Eine merkwürdige Erscheinung! Ein Wiener, der Die aristotelische Einheit des Ortes ist strenge ein¬
peitschen schwingend, einer dem anderen vor, bis im nach Wien „strebt“! Grillparzer hat in der gehalten. Alle drei Akte spielen im Zimmer Hugo's.
Februar oder März etliche Zurückgebliebene mit
Tragödie „Des Meeres und der Liebe Wellen“ den Der ganze Vorgang ist wie in „Deuise“ von Dumas,
lauter oder stiller Pleite“ das Rennen aufgeben.
Wiener nicht verleugnen können, und kein süßeres nur als Canevas benützt, um die Kontroversen und
Schon ist die dritte Novitätengarnitur auf dem Spiel= Wiener Mädel ist je dichterisch gestaltet worden als die Charakterbilder daran zu fixiren; denn der Vor¬
plan erschienen und setzt die Köpse, die Herzen und Melitta in
„Sappho“.
deshalb Arthur gang selbst ist ein Nichts. Wäre Toni die Ebefrau
die Kassen in Bewegung.
Schnitzler wirklich nur Formtalent bietet, ob der Hugo's gewesen, sie hätte bestens dafür gebankt, als
Das Deutsche Theater hat die Führung bisher Dichter aus sich heraus der Welt etwas, zu
sagen Wittib im Hause der Schwiegereltern das Gnaden¬
behauptet, und seine letzte Gabe, Arthur Schuitzler'a hat, mag erst die Zukunft lehren. Sein Schauspiel brod essen zu müssen. Und weil man ihr eine Rente
„ Das Vermächtniß
lotz mancher]=Das Vermächtniß“ zeigt einen sehr bedeutenden bietet, von der sie selbstständig leben kann, läuft sie
Bedenklichkeiten und berechligter Bedenken das In= Fortschritt im Sinne vertiefter Charakteristik und ins Wasser?
teresse doch mächtig angeregt. Mit der Schaffens= geschärfter Dialektik des gedanklichen Inhalts. Es ist
methode dieses reichbegabten und liebenswürdigen ein Theaterstück, und die Anlage, die Oekonomie der
Die nüchterne Analyse des Stückes müßte
zur Ablehnung der Arbeit führen, wenn nicht
Wiener Dichters hat ee eine eigene Bewandtniß. Er sienischen Eintheilung ist wieder ganz französischem der Dichter durch eine geradezu meisterhafte Cha¬
hat die moderne Pariser Literatur und von ihr Muster und speziell, sicherlich ganz unbewußt, der
einen sehr erheblichen Theit der Boulevardliteratur „Denise“ des verewigten Alexander Dumas Sohn
rakterzeichnung alle die Fehler der Anlage wett¬
gewissermaßen zu Nährmüttern seiner Muse er= nachgebildet.
gemacht und — stärker im Talent als im Denken —
koren. Die Grisette, die falschen Ehen, die aus
unbewußt das Interesse von der schwachmüthigen.
Der Vorgans! Hugo, der Sohn des reichen Heldin Toni auf die Figur Papa Losatti's, des
Leichtsinn Sentiments und Sinnlichkeit kom= Professors und Abgeordneten Losatti, stürzt im liberalen Professors und Abgeordneten, abgelenkt
pilirten Liebesgeschichten, die Probeexerzitien der Prater vom Pferde; er wird sterbend ins Haus ge= hätte. Mit dem Patron hat Arthur Schnitzler ein
Liebe im Leben des modernen jungen Mannes tragen und nimmt den Eltern das Versprechen ab, Stück Wienerthum bis ins Herz getroffen. Schon
haben es der Phantasie des jungen Dichters seine Geliebte, Toni Weber, und sein Kind, den der wälsche Name zeigt, daß Losatti einer völlig
angethan. Wie er sich mit seinem reichen, aber kleinen Franz,
so zu halten, als wäre Toni seine verwienerten Rauchfangkehrermeister=Familie ange¬
schlichten Haupthaar arglos eine Daudet=Locke in eheliche Frau gewesen. Das Versprechen wird ge= hört, deren es viele in Wien zu den mehrfachst ver¬
die Stirne strich, so kam er auch zur ehrlichen geben und trotz der konventionellen Bedenken des stockten Hausherren gebracht haben. Losatti aber ist
Ueberzeugung, daß alle die Geschichten und die ihnen Hausarztes, der Hugo's Schwester, Franziska, heira= Professor, Reichsrathsabgeordneter, Typus des immer
Die heutige Nummer umfaßt zwanzig Seiten.
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