II, Theaterstücke 10, Das Vermächtnis. Schauspiel in drei Akten, Seite 199

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10. Das Vernaechtnis
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Das Vermächtniß.
vierzig Jahren solches Schauspiel sehrhäufig sah. Ich fragte mich ärgerlich, warum
ich denn nicht auch ergriffen sei, und fand die Antwort: Ich kenne Herrn Hugo
Losatti nicht, weiß gar nichts von ihm; daß er vom Pferd gestürzt ist und
stirbt, ist schlimm für ihn und traurig für seine Familie; auf der Straße oder
in der Sanitätwache würde der Anblick meine Nerven quälen, auch auf der Bühne viel¬
leicht, wenn der alte Sterbeapparat der Romantik aufgeboten wäre; aber der behäbige
Herr Rittner, der Realist, zeigt ja ganz deutlich, daß er nicht stirbt, das Sterben nur
spielt: wozu sich also erregen? Auch Fräulein Weber kenne ich nicht. So stellt sich
nicht nur keine tragische Stimmung, stellt sich nicht einmal menschliche Theilnahme
ein. Drüben in der Loge aber betupft eine Dame im schwarzen Perlenkleid, Halseinsatz
von weißem Tüll, Federboa, große Brillanten in den Ohren und auf dem Hut,
mit dem Tuch die dunkel umränderten Augen: also muß die Sache doch wohl recht
traurig sein.... In der Pause forschten neugierige Leute, was nun kommen möge.
Unter vielen Möglichkeiten durfte man zwei Lösungen des Konfliktesersehnen. Toni
konnte sich im Hause der Losattis unheimisch fühlen und freiwillig scheiden, — viel¬
leicht, weilihr zugemuthet wurde, sich von ihrem Kindezutrennen. Denn das Kind,
nicht das Mädchen, dessen Anwesenheit durch eine Nothlüge leicht erklärt werden
kann, ist für die bourgeoisen Eltern einer unverheiratheten Tochter eine Last:
das „natürliche“ Kind verscheucht die früheren vornehmen Freunde des Hauses.
Herr Schnitzler ist anderer Meinung; er glaubt, nur das Kind sei zwischen der
wienerischen Bajadere und der Bourgeoisfamilie das fest knüpfende Band. Einerlei:
Toni selbst mußte sehen, daß in dieser kalten, fremden, korrekten Welt ihres Bleibens
nicht sei, und so den Aufathmenden die Erfüllung des Vermächtnisses unmöglich
machen. Viel feiner, eines klugen Dichters Mühen besser lohnend schien mir aber
die zweite Lösung. Vater und Mutter versprechen in ihrem Schmerz an Hugos
Totenbett das Unerfüllbare. Aber Hugo stirbt nicht, Hugo wird durch ein Wunder,
wie es die Natur manchmal wirkt, gerettet. Was wird nun geschehen? Die legitime
und die illegitime Familie haben einander kennen gelernt, Herr und Frau Losatti
haben Fräulein Weber liebevoll umarmt, Franziska Losatti hat sie Schwester
genannt und der kleine Franzl ist wie ein rechtes Enkelchen von Großmama,
Großpapa und Tante verzärtelt worden. Wo führt aus dieser Wirrniß ein Weg?
Heirathen kann der Dr. juris Losatti seine Toni nicht, an Heirathen hat er auch nie
gedacht; wie aber löst er sie nun, da sie doch einmal die Weihe bürgerlicher Anerkenn¬
ung empfangen hat, wieder aus dem Dunstkreis der Professorenfamilie, wie schlän¬
gelt sich von der Trauerrührung in die Alltagsinteressen ein schmaler Pfad? Ich
wäre dem Dichter gern in solche Tragikomoedie großbourgeoiser Wohlanständig¬
keit gefolgt; doch schon im ersten Akt lehrte mich leider manches Symptom, daß
Herr Schnitzler diese enge Straße nicht wandeln würde. Er bleibt bei den
Zufällen, den faits divers der Reporter. Im zweiten Akt stirbt das Kind,
im dritten die Mutter. Alles geht glatt auf, wie ein kühl ersonnenes Rechen¬