II, Theaterstücke 10, Das Vermächtnis. Schauspiel in drei Akten, Seite 200

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10. Das Vernaechtnis
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Die Zukunft.
exempel. Die beiden Welten prallen nicht auf einander, suchen, betasten, scheiden
sich nicht, sondern Herr Schmidt und Frau Winter entwickeln ihre Theorien und ein
zufällig eintretendes Scharlachsieber, ein Keuchhusten oder ein Diphtherieanfall
sichert dem Doktor den Sieg. Die Perlendame drüben betupft ihre Augen nicht
mehr; sie mustert die Toiletten und den Schmuck der Nachbarinnen und sieht ge¬
langweilt aus. Daß Toni Weber bei den Losattis nicht heimisch werden, daß in
ihrer Mitte der Armen kein Glück blühen kann, war schon um acht Uhr klar;
daß ihr Kind um neun stirbt und sie zu schwach ist, um allein mit dem harten Leben
den Kampf zu wagen, hat mit dem tiefsten Thema des Dramas eben so wenig
zu thun wie das nett pointirte Gerede der Frau Winter und des Herrn Schmidt.
Dieses Thema war bei den Romantikern, besonders den französischen,
sehr beliebt. Alexandre Dumas schrieb 1867 in die Vorrede zur Kamelien¬
dame: Toute fille vient au monde vierge. Pour faire cesser cct état
de virginité, il faut l’intervention de l’homme. Une fois cette vir¬
ginité détruite antrement que par le mariage, le déshonneur commence
pour elle et la prostitution se présente. Seit Manons und Marions
Tagen war es Mode geworden, mit dem Martyrbilde des liebend gefallenen
Mädchens die bürgerliche Gesellschaft zu ärgern. Zuerst wählten Stürmer die
Ausgestoßenen, die Dirne und den Verbrecher, zu Helden. Dann ließen ruhigere
Leute den Verbrecher d'Ennery und seinen derben Genossen und zeigten in der
Glorie die reine Maid, die ohne Ring am Finger dem Trauten was zu Liebe thut,
und Dumas, der nazarenische Bastard des père prodigue, nahm sich mit Apostel¬
begeisterung der armen Holden an. Dem Spuk machte Augier, der Bamberger.
des Dramas, für eine Weile ein Ende; er war der Mann seiner großbourgeoisen
Zeit und verkündete, man könne an solchen Mädchen, so angenehm sie für den män¬
nernden Jüngling seien, nicht ewig kleben, auch nicht beständig vor ihrem bekränzten
Bilde knien, und die bürgerliche Korrektheit habe ganz Recht, wenn sie diese unvor¬
sichtigen Schäfchen von der Schwelle weise, denn draußen dürfe man sich zwar
austoben, aber „das Haus müsse rein bleiben." Jetzt kehren, als echte revenants,
die romantischen Gespenster zurück. Wir haben die gräuliche Magda und manche
andere geschminkte Schöne gehabt und sollen nun Toni Weber lieben, ohne sie zu
kennen, nur, weil wir wissen, daß sie „aus Liebe“ gegen die Sitte gesündigt hat. Ich
weiß: Herr Schnitzler wollte eigentlich nur, wie seit den Wahlverwandtschaften so
viele Dichter, die Unvereinbarkeit zweier Welten zeigen; dazu brauchte er das „gefal¬
lene Mädchen“ nicht, brauchte er nur das ins reiche Haus verschlagene Kleinbürger¬
kind. Aber die Gespenster der Romantikumspukten ihn; und wenn man einromanti¬
sches Trauerspiel mit der Technik des Realismus putzt, entsteht ein Melodram, —
eine unlogische Tragoedie, nach Archers kluger Erklärung. In Herrn Schnitzler lebt
ein feines Gestaltertalent; eine persönliche Weltanschauung kann er erst an dem Tage
bekennen, woer sich von dem Vermächtniß der Romantik befreit haben wird. M. H.
Herausgeber und verantwortlicher Redakteur: M. Harden in Berlin. — Verlag der Zukunft in Berlin
Druck von Albert Damcke in Berlin.