II, Theaterstücke 10, Das Vermächtnis. Schauspiel in drei Akten, Seite 201

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10. Das Vernaechtnis
Menschendasein wirkten, sondern immer
daß die Bourgeoisie verlogen ist und
uei den Bühnenamüseuren jeder
daß die Demimonde Repräsentanten

Zeit und jedes Landes. Was Dreyer
der erhabensten Gesinnung enthält.
zeichtet, ist der Weiberfeind, der männ¬
Schnitzler sagt es noch einmal, leider
liche Hasser des zweiten Geschlechts in
ohne die Literatur darüber zu be¬
reichern. An der Frage an sich haben
seiner unmännlichsten Gestalt, die Kar¬
Erikatür eines großen Motivs, das ohne
wir kein Interesse; wir stehen der
ästhelische Bedenken dem Gejohle der
„Welt“ und der Halbwelt gleich fern
und schenken unser Ohr den besten
Galérie preisgegeben wird. Der Herr
Gründen. Nun sind es aber leider
Gutsbesitzer — es ist in Dreyers Fall
ein Gutsbesitzer — haßt die Weiber
die Gründe, auf die Schnitzler so voll¬
kommen verzichtet, wie ein rebikaler
und belegt das mit Zitaten aus Schrift¬
stellern die ebenfalls ohne philoso¬
Naturalist auf die Schönheiten der
Sprache. Von dem weiblichen Engel,
phische Bedenken dem Spott der Frauen
der uns rühren soll, erfahren wir nichts
und der Kinder preisgegeben werden.
Nennenswertes, als den Tod ihres
Der Mann war verlobt und in der
Vaters, der sie in der landesüblichen
Knospenzeit der Liebe küßte seine Braut
Weise verflucht hat und den sie in der
einen anderen; deshalb haßte der Mann
landesüblichen Weise einsam hat sterben
die Weiber. Seine Bekehrung zum
allein selig machenden Weib ist der
lassen. Das scheint mir etwas wenig,
Vorwurf des Dreyerschen Schwankes,
wenn mich die Dame drei Stunden
in seiner Durchführung so armselig
lang interessieren und überdies von
meinen Vorurteilen gegen die bourgeoise
wie die Freiheit in Preußen. Was
außer dem armseligen Helden noch über
Zimperlichkeit kurieren soll. Im all¬
gemeinen sind ja die kleinen Damen
die Bühne geht, sind ein „dummer
Diener“, ein paar adrette Lieutenants,
der Vorstadt, die in der inneren Stadt
teure Etagen bewohnen, recht harm¬
ein Backfisch von Moser und eine
dumme Köchin aus irgend einer andern
los; sie färben ihr Haar, leisten sich,
wenn's geht, ein Koupé und haben
Possenfabrik. Daß bei diesem Per¬
sonal ein besetztes Parkett aus dem
unter allen Umständen feste Logensitze
Häuschen gerät, ist in der Ordnung;
im Theater. Wenn ich außer dem noch
an eine gewisse Engelhaftigkeit der
daß die Kritik dienert, ist begreiflich;
Gesinnung glauben soll, verlange ich
#aber selbst ehrliche Leute ihre An¬
Gründe — nein, ich verlange mehr:
sprüche bis zu einem ergebenst gemur¬
ich verlange den Grund der Gründe.
melten „harmlos“ herabstimmen konn¬
Ich will sehen, wie zwei Dinge so ver¬
ten, bedauern wir, weil solche zage
schiedenen Wesens wie Tugend und
Bescheidenheit uns zur Erwähnung
Halbwelt zusammen wachsen konnten.
eines dramatisierten Gemeinplatzes
Die Geschichte der Gründe möchte
nötigt, der sonst klanglos hätte ver¬
schwinden können.
ich kennen lernen, und ich erhalte nicht
Und nun zu Schnitzler. Der
einmal die Gründe, selbst Schnitzlers
„Vermächtnis“ steht und fällt, und
Wiener Poet, der so angenehm zu
fällt also mit der kleinen Person, die
plaudern weiß, will augenscheinlich
er zur Trägerin der Vorstadtherrlich¬
nicht mehr plaudern. Er will irgend
keit gemacht hat. Sie weint, weil ihr
etwas mitteilen, was die Menschen
Geliebter stirbt — das thun andere
länger beschäftigt, als eine Tasse schwar¬
auch; sie begießt die Leiche ihres Kin¬
zen Kaffees und eine Zigarette das im
— das thut eine
des mit Thränen
allgemeinen zu thun pflegen. Das Be¬
Mutter immer, auch wenn sie das
deutende scheint ihn zu reizen, der ein¬
ausgehaltene Mädchen eines reichen
zelne Fall, der wie ein Schreckschuß
Mannes war. Sie ist in der Familie
wirkt und die Gesellschaft in ihrem
ihres Liebhabers voll von Takt und
satten Wohlsein stört. Den Willen
Rücksicht — das ist verständlich, weil
hat er, aber es ist ein überreizter Wille,
sie alles zu verlieren und nichts zu
ein Wille, der nicht aus der Kraft ge¬
vergeben hat. Das Besondere fehlt.
boren wurde, der im Gehirn entstand
Die kleine Maitresse, deren Martyrium
und nun nach der Kraft schreit. Dies
uns erzählt wird, ist eine Maitresse
grelle Schreien aber ist unerquicklich.
wie andere mehr, sie hat nichts per¬
4Man hat immer den Eindruck, einem
sönliches, das sie in unserer Erinnerung
Menschen gegenüber zu sitzen, der sich
haften läßt. Das scheint mir der
künstlich aufkratzt“, um bedeutend zu
Hauptmangel. Ob das Stück geschickt
scheinen. Schnitzlers Motiv ist alt.
Die Menschheit weiß nun nachgerade,
oder ungeschickt, elegant oder plump,
1. Novemberheft 1898
Kunstwart
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