II, Theaterstücke 10, Das Vermächtnis. Schauspiel in drei Akten, Seite 220

10. Das Vernaechtnis
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satti alle Tugenden und Rechte einer Gattin zu¬ gleitet lautlos wie ein Schatten durch das Haus, die wie möglich nimmt sie Abschied vom Ehepaar Losatti
Familienmitglieder weichen ihr aus oder begegnen ihr und eilt, jede Hilfe verschmähend, auf ihr Zimmer,
erkannt — kann nuch in das brechende Auge des an¬
wortlos und beklommen. In ihrem namenlosen um ihren Auszug aus dem Hause zu bewerkstelligen.
gebeteten Mannes blicken, und das Kindchen, der
Schmerze fühlt sie ihre Uiberzähligkeit und Uiberflüs¬! Ein einziges Mitglied des Familienrathes wurde bei
kleine Franz (Josesine Filaun) erscheint eben zurecht,
diesem ganzen Gerichtsverfahren übergangen, die
sigkeit und kann doch den Gedanken nicht fassen, daß
um den Erschütterten im Angesichte des unerbittlichen
Haustochter Franzi, die zufällig während der raschen
ihr der letzte Zusammenhang mit ihrem bisherigen
Todes einen Schimmer von Trost zu bieten. Im
Verabschiedung der Hausgenossin nicht daheim war.
Lebensinhalt abhanden kommen soll. Die Situation
zweiten Acte rollen sich vor uns die häuslichen Zu¬
Da sie zurückkehrt, theilt man ihr zögernd das Vor¬
ist schwierig, und die besseren Naturen möchten ab¬
stände auf, denen das Vermachtniß Hugos das Ge¬
gefallene mit, und ihr gesund empfindendes jugend¬
warten, wie sich der Geist des Vermächtnisses, das
präge aufdrückt. Toni, dern anschmiegsames, stilles
liches Herz überströmt von Groll und Anklage, Sie
seine kräftigste Stütze verloren hat, lebendig erhalten
mütterliches Wesen die besten Erwartungen recht¬
erinnert die Eltern an das Versprechen, das sie dem
läßt. Der redselige Professor Losatti hat indes eine
fertigt, lebt als Witwe des Hanssohnes inmitten der
sterbenden Sohne gegeben, an das Glück, das Toni
glatte Lösung des schwierigen Exempels sofort bei der
Familie, und das hereingeschneite Kind wird von allen
dem Dahingeschiedenen bereitet hat, und an die Ach¬
Hand. Aus einem Helden der freien Lebensanschauung
Seiten gehätschelt und verwöhnt. Echte Neigung
tung, die man ihrer Liebe und Treue schuldet; sie
verwandelt er sich im Handumdrehen in einen Spre¬
und der krampfhafte Wetteifer „kinderlieb“ zu scheinen,
sagt sich mit elementar hervorbrechendem Ekel von
cher der conventionellen Verständigkeit; vermuthlich
umwerben den schwächlichen kleinen Knaben, in dem
dem Bräutigam los, der der Hartherzigkeit seine Hand
ist er in irgendeinem Herzenswinkel froh über diesen
die Persönlichkeit des betrauerten Hugo fortzuleben
geliehen und nun auch das Wort reden will, sie sucht
Rollentausch, der ihm jeden unbequemen Widerspruch
scheint. Der alte Losatti svielt den zärtlichen Gro߬
Toni auf, um sie zurückzuhalten, — aber ihre Ent¬
gegen die Gewohnheiten der Gesellschaft erspart. Er
vater und den Helden der Großherzigkeit, der den
rüstung und ihr Eifer, gut zu machen, kommen zu
calculirt ganz einfach: das Kind ist todt und die den
Vorurtheilen der Gesellschaft die Spitze bietet, Hugos
spät. Toni ist verschwunden, und einige Worte, die
Verwandten völlig fremde Mutter, die ohnedies nicht
jüngerer Bruder, der übermüthige Gymnasiast Lulu
sie in ihrem Zimmer zurückgelassen, sagen deutlich ge¬
in die Familie hineinpaßte, hat nun nichts mehr im
(Fräul. Bardi) macht drollige Erziehungsversuche
nug, daß sie sich in jenen Bereich geflüchtet hat, aus
Hause zu schaffen. Allerhand gute Lehren über die
an seinem Neffen, und die Frauen der Familie,
dem man keinen Flüchtling zurückholen kann.
Unmöglichkeit, der romantischen Empfindelei weiter
voran Franzi und Agnes, in der die Neigung zu dem
Wie in allen seinen Schauspielen tritt Arthur
gerecht zu werden, kommen ihm jetzt ebenso geläufig
Dahingeschiedenen nachwirkt, theilen sich mit Toni in
Tschnitzler auch in diesem für das Recht des Gefühles
von den Lippen, wie vor kurzem seine pathetischen
der Sorge um das Kind. Nur Dr. Schmidt, der
ein, das sich den Formeln, Anschauungen und Uiber¬
Versicherungen, kampfbereit für die Forderungen des
unterdessen in die Stellung des officiellen Bräuti¬
lieferungen der Gesellschaft gegenüberstellt. In „Lie¬
Gefühls einzutreten. Die Gattin des großen Redners
gams der Haustochter vorgerückt ist, setzt diesem Zu¬
belei“ hat er das ganz und gar als darstellender
läßt sich auch diesmal unterjochen; Frau Emma
stande ein finsteres Mißvergnügen entgegen. Er ta¬
Künstler gethan, der nur bildet und nicht redet.
Winter, die das Flitterwesen des Schwagers durch¬
delt die Cordialität seiner Braut mit der als Erb¬
Dort spricht einzig und allein das mit voller Kraft
schaut und diesen gründlich verachtet, hat Uiberzeu¬
stück hinterlassenen „Maitresse“ und sucht durch hoch¬
dargestellte Schicksal des armen Mädchens, das die
gungsmuth genug, einen Strich durch die kühle
nothpeinliche Uutersuchungen der Vergangenheit Tonis
Liebelei mit der ganzen Heiligkeit eines ursprünglichen
Rechnung machen und die verlassene Toni zu sich ins
Stellung im Hause zu erschüttern. Eine Erinne¬
Gefühles ernft nimmt und daran zugrunde geht. An
Haus nehmen zu wollen. Aber siehe da — die kleine
rung aus seiner ärztlichen Praxis kommt ihm dabei
„Freiwild“ hat die Casuistik, die einen Fall kunstvoll
Agnes, dieselbe, die sich zu Lebzeiten des Kindes nicht
zu Hilfe; er hat Tonis Vater behandelt und kann
zuspitzt, um die Meinungen gegen einander kämpfen
eng genug an die Witwe des vergötterten Hugo an¬
bezeugen, daß sich die Tochter vom Krankenlager des
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zu lassen, schon weit größeren Antheil, und im „Ver¬
schließen konnte, erklär mit einem Male, Toni als
sterbenden Alten fern gehalten. Die Angeklagte ver¬
mächtniß“ spricht die Construction, das Gedanken¬
Hausgenossin nicht ertragen zu können. So ist Dr.
theidigt sich in ihrer schlichten wortkargen Art; sie
gefüge, das mit seiner Absichtlichkeit völlig hinter dem
Schmidt, der es gerne übernommen hat, im Auftrage
wurde aus dem väterlichen Hause verstoßen, weil ihr
dramatischen Leben verschwinden muß, um zu über¬
des Familienoberhauptes dem angeblich unhaltbaren
Verhältniß zu Hugo nicht ohne Folgen blieb, und
zeugen, das erste und das letzte Wort. Das erste kann
Verhältnisse ein Ende zu machen, in der Lage,
hätte später die Wiederaufnahme nur um den Preis
man ihr gestatten: in der Voraussetzung nehmen wir
das Urtheil ohne alle Milderung zu verkünden. Er
der Trennung von dem Kinde erwirken können. Vor
das Kühnste und Willkürlichste, das Zufällige und
thut es mit aller Rauheit engherzigen Philisterthums,
die Wahl gestellt, den Vater oder das Kind zu ver¬
Ungewöhnliche ohne Einwendung hin, wenn Alles, was
und Toni vernimmt den Spruch wie etwas Erwar¬
lieren, trenute sie sich mit blutendem Herzen von dem er¬
daraus folgt, den Gesetzen der inneren Natur entspricht.
tetes und trotz alledem Unfaßbares. Sie hat kein Ohr
steren, und alle Versuche eine Versöhnung herbeizuführen,
Daß aber im Vermächtniß auch das Letzte, die
dofür, daß man ihr ein Stück Geld anbietet, womit sie
waren erfolglos. Während Toni so von den Opfern ihrer
eigentliche Katastrophe von der tendenziösen Absicht
sich draußen im Leben eine neue Existenz gründen
Mutterschaft berichtet und die Rechte ihrer Weiblich¬
beherrscht ist, schwächt die Nachwirkung des geist¬
kann, sie hat kein Verständniß für die Trostesworte
keit vertheidigt, schwindet der letzte Halt ihrer Liebe
vollen Stückes beträchtlich ab. Schnitzler erhebt sich in
des Freundes Brander (Herr Tauber), der ihr in
und ihres Selbstvertrauens dahin. Schmerzenslaute
seinem Stücke hoch über die einst gefeierten Franzosen,
glücklichen Tagen als der Genosse Hugos nahestand
aus dem Nebenzimmer verkünden eine heftige Erkran¬
und der sie durch die Vorstellung eines späten Zu= die in ähnlichen gesellschaftlichen Problemstücken, in
kung des fiebernden Knaben, die Familie eilt bestürzt
standes der Beruhigung aufzurichten versucht — sie denen sie sich für die Begnadigung der „Gefallenen“.
an das Lager des Kindes, und da der Vorhang zum
fühlt nur, daß sie kein Heim in der Welt mehr hat einsetzen, nie einen Rechenfehler machen, aber auch
dritten Male emporrauscht, ist eine neue Trauer in
das Haus eingezogen. Das Kind ist begraben, Toni] und daß ihr jeder Halt entschwunden ist. So rasch die Empfindung, die höher als der gesellschaftuche