II, Theaterstücke 10, Das Vermächtnis. Schauspiel in drei Akten, Seite 226

klammert sich verzweifelt an den Aufenthalt in Hanse.! Bardi in der Charakteristik entschiedene Fortschritte
Aber es hilft ihr nichts. Frau Winter, die das Ver= macht. Frl. Immisch gab die Toni Weber mit dem
hängnißvolle ihrer Situation erkennt, will das Letzte weichen Gesühl, das ihr eigen ist, und wußte in den
abwenden und Toni in ihr eigenes Haus nehmen; aber
entscheidenden Scenen wahrhaft zu ergreifen. Dennoch
ihre Tochter verwahrt sich dagegen, und so muß dieses
fehlte der Beisatz des Volksthümlichen und Einfachen,
Vorhaben unterbleiben. Toni wird weggeschickt, und
und es muß der Wunsch ausgesprochen werden, daß
sucht, da sie keinen Auschluß mehr in der Welt hat, den
Frl. Immisch dieses Erforderniß der modernen Schau¬
Tod. Losatti und Dr. Schmidt lehnen die Verantwortung
spielkunst sich immer vor Augen halte, damit ihr ange¬
für diese traurige Folge ab. Aber Franziska erhebt die
nehmes Talent auch immer günstig zur Geltung komme.
Anklage gegen sie, daß sie mit kühlem Herzen die Un¬
Frl. Baumgart hielt in der Darstellung der edlen
glückliche in die Verzweiflung getrieben haben, und ge¬
Frau den richtigen Grad vornehmen Ernstes ein und
steht am Ende selbst, daß sie ein reines Verhältniß zuvermied in anerkennenswerther Weise die Beimischung
Toni nicht gefunden und sich immer als die Gnaden¬
des Pathetischen. Frl. Ehrhardt und Frl. Ursus
spenderin ihr gegenüber angesehen hat.
fügten sich in das Zusammenspiel mit Geschick ein, ohne
Wie schon hervorgehoben, ist nicht die Verachtung,
indeß ihre Rollen bis zur selbstständigen Bestimmtheit
die man einem verlassenen Mädchen gegenüber empfindet,
herauszuarbeiten. Die kleine Rolle des Arztes war durch
der Gegenstand des Stückes; denn so weit sind Professor
Herrn Mandé ansprechend vertreten, und gerechter
Losatti und seine Angehörigen, um sich auch über ein
Weise soll auch die kleine Filaun, die das Kind
spielte, ihren Fleißzettel erhalten.
Vorurtheil, wenn auch mit ein wenig Kampf, hinwegzu¬
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setzen — aber nur daun, wenn der Egoismus sich damit
im Einklange halten läßt. Das hat der Dichter in feinem
Gegensatze hervorgehoben. Losatti erkennt sein Verhält¬
niß zu dem Enkelkinde an und behält Toni nur als die
Mutter seines Enkelkindes im Hause. Denselben Stand¬
punkt der Engherzigkeit nimmt der Vater Toni's ein,
der zwar seine Tochter, auch nachdem sie gefallen ist, zu
sich nehmen will, jedoch ihrem Kinde den Eingang in
sein Haus unbedingt verweigert. Diese Gegenüberstellung
ist ein meisterhafter Zug und setzt die Absicht des Dich¬
ters schärser als alles Andere in's helle Licht. Auf bei¬
den Seiten geht die Menschlichkeit nicht so weit, anzuer¬
kennen, daß Mutter und Kind zusammengehören. Dieser
Kampf gegen die kaltherzige Abgrenzung des eigensten
Interesses, welche weit tiefer geht, als man auf den
ersten Moment anzunehmen geneigt ist, gibt dem neuen
Werke Schnitzler's eine bedeutsame Signatur.
Was die Ausführung im Einzelnen aulangt, so
steht die Technik entschieden auf der Höhe. Der Aufbau
des ersten Actes kann gewiß zu den geschicktesten Expo¬
sitionen gezählt werden, die wir besitzen. Die Charakteri¬
stik ist am stärksten in der Figur des Professors Losatti,
des phrasenhaften Abgeordneten, der nach seiner politi¬
schen Gesinnung liberal, nach seiner Empfindung ein bis
zur Kälte nüchterner Opportunitätsmensch ist. Etwas
gar zu schwarz ist Dr. Schmidt ausgefallen, und wern
auch recht fein motivirt ist, daß der Sittenprediger seine
Strenge durch den Rückblick auf seine durchkämpfte
Jugend rechtfertigt, läßt sich doch nicht verkennen, daß
die Farbe etwas milder härte gehalten sein dürfen, um
die Lebenswahrheit ganz zu behaupten. Sehr sympathisch
sind Franziska und Frau Winter gezeichnet, die Alles
versteht und verzeiht. Das Drama stellt uuzweiselhaft
einen weiteren Fortschritt Schnitzler's in der Beherrschung
der Bühne dar und kann mit Ehren neben den besten
Hervorbringungen der letzten Zeit stehen.
Die Aufführung machte sich um das anziehende
Werk ehrlich verdient. Herr Schmidt, der den Losatti
gab, bot eine Zeichnung von so sicheren Strichen#
dle eigenartige Figur in voller Lebendigkeit vor uns ungetheilten, freundlichen Beisall, später setzte eine sehr
stand. Das liberale Mäntelchen, das die crasse Selbst=starke Opposition ein, die sich im dritten Acte bei offener
sucht nicht verdecken kann, trug diese Gestalt mit vor¬ Scene zum erstenmale bemerkbar machte, um gegen den
trefflich gespielter männlicher Würde. Neben dieser präch= nach einer wilden Prügelstene recht gewaltsam improvi¬
tigen Leistung des Herrn Schmidt trat, wie schon in der sirten „Beifallssturm“ energisch zu protestiren. Dieser
Vornotiz gesagt worden, Fräulein Ehrl am meisten in Kampf zwischen den Anhängern des Autors und den
Gegnern des Stückes wiederholte sich dann am Ende des
den Vordergrund. Wir haben diese begabte Kraft als
dritten und vierten Aufzuges, so daß der harmlos
Vertreterin des heiteren Genres immer geschätzt und auch
in Aufgaben ernsterer Natur ihr Verständniß für poctische dreinschauende Dichter sich nur für einen sehr bestrittenen!
Stimmung würdigen können. Dennoch war es uns eine Erfolg bedanken konnte. — „Das fünfte Rad“
angenehme Ueberraschung, an ihr auch so viel Kraft und das neueste Lustspiel von Hugo Lubliner (Bürger), fand
Energie kennen zu lernen, wie sie sie als Franziska ge=im Kgl. Schauspielhause zu Berlin freundliche Aufnahme.
zeigt hat. Die echte Wärmie, mit welcher sie die Schluß=] Es ist eine bürgerliche Comödie, die durch lustige Situa¬
scene spielte, zeigte, daß der Umfang ihres Könnens noch tionen und anheimelden Humor wohl zu interessiren
weiter liegt, als wir auch bei unserem günstigen Vor= vermag, aber sich im Ganzen in der Schablone eines
urtheil angenommen haben. Die wirkungsvolle Leistung überholten Geures hätt. Lubliner wurde besonders nach
dem zweiten Act wiederholt gerufen.
sei als besonders erfreulich constatirt. Hr. v. Wymetal
— Keine Antoren=Hervorrufe. Die
stellte in scharsem Umriß den allzu strengen Richter
meisten Wiener Bühnenautoren werden nächste Woche
Dr. Schmidt dar, einfach und fest, wie wir es von die¬
ein Cartell schließen, weiterhin Hervorrufen auf der
sem Dursteller kennen. Gerade das, was der Dichter zu
viel gethan hat, erschien hier in richtiger Weise gedämpft! Bühne nicht mehr Folge zu leisten. Bisher traren dieser
und gemildert. Deu jungen Mann spielte Herr John Abmachung bei: Bahr, Bauer, Herzl, Leon, Karlweis 2c.
in hr aufregenden Sceue mit Lebendigkeit und Empfin= Auch bei den deutschen Dramatikern wird, wie wir ver¬!
dung. Seinen Freund gab Herr Tauber, der die ele¬nehmen, diese Anregung fruchtbaren Boden finden.
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