II, Theaterstücke 10, Das Vermächtnis. Schauspiel in drei Akten, Seite 259

n Sie 1 eden dieser Geselschaft, von deren Söhnen sie verführt wur¬
den, auf's Tiefste verachtet, als Menschen dritten oder vierten Ranges an¬
gesehen werden. Ein solches Mädchen ist Christine in Schnitzlers 1895
erschienenem Schauspiel „Liebelei“, das auch am Leipziger Stadttheater,
dessen Publicum bekanntlich nicht für derartige Themen inclinirt, eine bei¬
fällige Aufnahme fand. Christinens Liebhaber Fritz fällt in einem
Duell, das er mit dem Ehemann einer Frau, mit welcher er vorher in
pu Beziehungen gestanden, auszutragen hat. Fritz wird begraben und selbst
seine in das Verhältniß mit Christine eingeweihten Freunde halten es
nicht für nothwendig, das arme Mädchen, das in innigster Liebe an Fritz:
hängt, zu benachrichtigen. Seine Familie, seine nächsten Angehörigen,
nehmen Theil an der Trauerfeier und zu der Familie, zu den nächsten
Angehörigen gehört ja Christine nicht. Sie gilt für ein Nichts, weil ihrem 1.
AbonVerhältnisse das Wort des Standesbeamten, der Segen des Priestersn
Abongehlte. Christine geräth darüber in Verzweiflung, halb wahnsinnig vor
Schmerz verläßt sie das väterliche Haus und „Sie kommt nicht wieder“,
sagt tonlos der alte Vater.
Inhal
Ein ähnliches Thema behandelt Schnitzler in dem drei Jahre später).
b#üterschienenen Schauspiel „Das Vermachtniß“, das am vorgestrigen
wodurMontag durch das Meßthaler=Ensemble im Sommer=Theater Hotel Stadt n
des INürnberg zur ersten Aufführung in Leipzig gebracht wurde.
Werde
Die Unglückliche, deren Sache hier der Dichter zu der seinen macht,
ist Toni Weber, die, in elenden Verhältnissen aufgewachsen, den reichen
Sohn des Professors Losatti kennen lernt. Es entspinnt sich ein Ver¬
hältniß, in welchem trotz seiner Illegitimität beide junge Leute ihr Glück
finden und das inniger, ja man kann fast sagen reiner ist, als manche zu¬
sammengeschmiedete Ehe. Dem wilden Verhältniß, wie man so zu sagen
pflegt, entspringt ein Kind und dieses Kind steigert ihr Glück zum Ueber¬
maß. So hat Toni Weber mit ihrem Kinde in einer einfachen Wohnung
Jahre lang dahingelebt. Die Stunden, da ihr Hugo auf Besuch kam
und mit dem Kinde spielte, bedeuteten für sie das Leben und ihm waren
sie die Zeit, zu welcher er, gelöst von den Fesseln der Gesellschaft, sich geben
konnte, wie er war.
Plötzlich wird diesem Glücke ein jähes Ende. Bei einem Spazier¬
ritt stürzt Hugo mit dem Pferde und wird sterbend in die Wohnung seiner
Eltern gebracht. In der Todesstunde offenbart er sein Geheimniß der
Mutter und nimmt ihr das Versprechen ab, seine Toni und seinen Buben
zu holen und sie dort zu behalten, wohin sie gehören — in dem Hause,
in welchem er aufgewachsen! Das ist sein Vermächtniß!
Des Sterbenden Wille geschieht. All die Liebe, die man dem ver¬
storbenen Lieblinge des Hauses geschenkt, überträgt man jetzt auf sein
Söhnchen und ein Theil dieser Liebe wird auch der bedauernswerthen
Toni zu Theil.
Doch das Unglück schreitet weiter: Das Kind stirbt und von dem
Augenblicke an, da man es in das Grab senkt, hat man kein Herz, kein:
Mitleid mehr für die Mutter. Vergessen ist das Versprechen, das man
dem sterbenden Sohne gegeben. Man will das Mädchen unterstützen, aber
man will mit ihr nicht mehr unter einem Dache wohnen. Das bricht ihr,
die jetzt von aller Welt verlassen dasteht, das Herz. Sie verläßt das
Haus, in dem sie eine zweite Heimath zu finden gehofft, und in ihrem
Zimmer findet man einen Zettel mit den inhaltsschweren Worten:
„Suchet mich nicht, Ihr werdet mich nicht finden.“ Auch sie kommt, ge¬
nau wie die Christine in „Liebelei“, nicht wieder: die Gesellschaft hat ein
weiteres Opfer gefordert!
Man kann nicht sagen, daß diese Handlung besonders erfindungs¬
reich sei. Geschichten, wie die eben angeführte, gehören in der Großstadt
nicht zu den Seltenheiten. Aber die Handlung selbst war ja nie die
Stärke Schnitzlers. Seine Force ist die Stimmungsmalerei, die
Schilderung des Lebens, wie es wirklich ist. Und diese Schilderung ist
ihm auch in dem „Vermächtniß“ gelungen. Es ist ein grelles Spiegel¬
bild, das er hier der Gesellschaft, ihren Formen mit all' ihrer Rücksichts¬
losigkeit gegen das, was nicht zu ihr gehört, vorhält, ein Bild, das mehr
zu denken giebt als mancher Band ethischer Abhandlungen.
Es wird Leute geben, welche die Entwickelung des Stücks — im
ersten Acte der todte Vater, im zweiten Acte das todte Kind, im dritten
Acte die todte Mutter — für zu primitiv halten. Uns will gerade diese
Einfachheit in der Entwickelung als ein Vorzug erscheinen. Mit voller
Klarheit wendet sich so der Verfasser, von Act zuAct nachdrücklicher werdend,
gegen die Vorurtheile der Gesellschaft. In der Zeichnung der einzelnen
Figuren, mit denen er agirt, treten die menschlichen Schwächen vielleicht
etwas zu scharf hervor, doch wir treffen ja auch in der Wirklichkeit mehr
Schwächlinge als charakterfeste Leute!
Die von Max Walden inscenirte Aufführung des Stückes
durch das Meßthaler=Ensemble war stimmungsvoll und sie wäre noch
stimmungsvoller gewesen, wenn nicht der Souffleur allzu oft und allzu
laut hätte in Action treien müssen.
Die beste Leistung bot unstreitig Max Eißfeldt, der seinem
sterbenden Hugo wahre Töne des Herzens verlieh. Auch Adele Da¬¬
mer brachte als Toni Weber die Liebe zu dem Sterbenden und zu ihrem
Kinde, den Schmerz über den Verlust und über das, was man ihr an¬
gethan, ergreifend zum Ausdruck.
Von den zahlreichen anderen Mitwirkenden heben wir noch den un¬
schlüssigen, trotz aller liberalen Anschauungen, mit denen er sich brüstet,
an die Formen der Gesellschaft gefesselten Professor Losatti Otto
Ripperts und den gefühllosen, allerRücksicht baarenArzt Dr. Schmidt
Cäsar Becks hervor.
Genannt seien dann weiter Therese Paulmann als Frau
Professor, Agnes Waldmann und Grete Mudra als deren!
Kinder, Anna Jordan als Wittwe Winter, Anna Huber als
deren Tochter, und Ferdinand Martini als Freund der Pro¬
feffor=Familie.
Das Publicum, das sich anfangs schwer mit dem ernsten Stoff ver¬
traut machen wollte, applaudirte an den Aetschlüssen lebhaft.
Fritz Cl. Malt!