II, Theaterstücke 10, Das Vermächtnis. Schauspiel in drei Akten, Seite 270

schenleben gehen vor unseren Augen zugrunde.
halb wohl der Dichter sein Stück nur Schauspiel
und nicht Trauerspiel genannt hat? Weil der Tod
Hugos, seines kleinen Sohnes und der „Geliebten“
nicht durch deren eigene Schuld herbeigeführt wird,
weil der Dichter keine Schicksalstragödie schreiben
wollte, obwohl die Charaktertragödie vom fatalisti¬
schen Standpunkte doch immer Schicksalstragödie
breibk, zumal bei diesem Stück, wo die Schuld am
Milien, an der Gesellschaft liegt? — Die beiden wenig
lebenswahr gezeichneten Charaktere sind die des
Dr. Ferdinand Schmidt und der Schwägerin Emma
Winter. Beide sind Verkörperungen der sich im Stücke
befehdenden Tendenzen. In Schmidts Charakterisie¬
rung fehlt das Warum seines Verhaltens. Ist er
ein Streber, so decke sich sein Verhalten allerdings
mit dem eines teils der „vorurteilsvollen“ Gesell¬
schaft, doch seine Beweggründe wären den natürlichen,
auf Tradition, aber auch Eifersucht beruhenden Vor¬
urteilen der enttäuschten, von der Gesellschaft zu
Hugos Braut ausersehenen Agnes gegenüber schärfer
zu präzisieren; hat er, der aus denselben „niederen
Schichten“ wie Toni Weber hervorgegangen ist, den
Glauben an die Töchter dieser Schichten verloren, so
wäre eine Begründung dieser Anschauung erwünscht
gewesen. So steht Dr. Schmidt als eigensinniger bru¬
taler Verfechter der Konvention da, ein unmotiviert
häßlicher Charakter, wie wir sie in der pfeudoklassi¬
schen Literatur schon zu genüge gehabt haben. Und
doch hätte der Dichter aus ihm, als einem der Ver¬
treter der Vorurteile der „niederen Schichten“ neben
denen der „besseren Gesellschaft“ die wir im Stücke
kennen lernen, mit ein paar Worten außerordentlich
viel machen können. Die Motive des Verhaltens der
liberalen Witwe Winter, der tapferen Verfechterin
der Erfüllung des Vermächtnisses sind allerdings
genannt. Doch sie steht wieder als Sprecherin der
Loleranztendenz zu heroinenhaft da, als daß wir mo¬
dernen Menschen, die das Strahlende zu schwärzen
lieben, nicht auch in ihr einige allzumenschliche Seelen¬
kämpfe des Zweifels gerne entdeckt hätten. Denn
mit einer bloßen Behauptung, mag sie auch ein aus
vielen Kämpfen außerhalb der Bühnengegenwart sieg¬
reich hervorgegangenes Panier sein, ist das Thema
nicht erschöpft; wir wollen von ihr, bei der noch nicht
nur des Herzens Wünsche sprechen, eine Begründung
ihres Verhaltens in der Bühnengegenwart. Psycho¬
logisch fein gezeichnet ist dagegen der Uebergang in
der Stimmung der beiden Backfische des Stücks; die
Tochter des Hauses Franziska, gedankenlos einer Kon¬
ventionsehe entgegentreibend, erwacht; ihr natürlich
gutes, naiv die Vorurteile nicht verstehendes Herz
empört sich gegen die Brutalität der Gesellschafts¬
moral, welche so beschämend häßlich dasteht ohne die
Hüllen der „Tugendhaftigkeit“ der Schutzgesetze, durch
die sie in ihrer Ohnmacht dem narürlichen Leben
gegenüber beschirmt wird; und die Cousine Agnes
wird — ohne des Wechsels bewußt zu werden — aus
der Anhängerin der Toleranz als Phrase zur Spre¬
cherin der Intoleranz der Natur. Frau Betty ist
die Mutter bei welcher nur das warme Herz spricht,
ohne nach Vernunftgründen zu fragen. Deshalb unter¬
liegt sie den angeblichen Vernunftgründen ihres
Gatten und ihres künftigen Schwiegersohns, sie, die
selbst in den Traditionen der Gesellschaftsintoleranz
erwachsen ist und deren Herz nur die Partei ihres
Sohnes kennt. Ihr Gatte ist ein schwankes Rohr.
Viel Herz hat er nicht, wie auch nicht genügend Ver¬
stand. Die liebe Gewohnheit der gesellschaftlichen
Moral besiegt das Schwanken und macht ihn fest
an der Stütze des brutalen Schwiegersohns. Kann
man das Stück, wie getan, auch hie und da als dem
Ideal eines Gesellschaftsdramas nicht voll gerecht
werdend bemängeln, so sind die Ideale doch immer
das Unerreichbare und man kann das Stück getrost
unter die Meisterwerke rechnen, zumal wenn es so
dargestellt wird, wie es geschah, obwohl mit Büchern
in der Hand gespielt wurde. Das impulsiv natürliche
Spiel ist es, was die Bühne des „Dramatischen Ver¬
eins“ so vorteilhaft von der seelenlosen Routine und
dem Schmierenpathos, die selbst an den großen
Petersburger Bühnen sich nicht verleugnen lassen,
so beliebt gemacht hat; denn man sieht in der Dar¬
stellung — uneigennützige Liebe zur Sache. Die Dar¬
tellerinnen der Toni Weber, der Agnes und der
Franziska standen obenan im naturgetreuen zum
flusdrucke Bringen ihrer Charaktere, in der Lebendig¬
keit der Handlung und dem tadellosen, dieses Mal,
besonders zu betonenden Zusammenspiel. Emma
Dr. Schmidt, Frau Betty und Professor
Winter,
Losatti, das kurze, aber dankbare Auftreten (des
Intimus Hugos — Gustav Brandes', der sterbende
Sohn Hugo und der Arzt Bernstein — lauter wohl¬
abgerundete, wohlabgetönte Leistungen. Und doch
nur ein Leseabend. Alle Hochachtung!
Neue Oper im „Aquarium“. Das
Ensemble der Neuen Oper veranstaltete im Großen
Saale des Konservatoriums zum wohltätigen Zwecke
eine Vorstellung, in der der „Dämon“ von Rubin¬
* Dämnn“ ist