II, Theaterstücke 10, Das Vermächtnis. Schauspiel in drei Akten, Seite 271

10. Das Vernaechtnis
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Theater und Mulik.!
St. Petersburger Gesellschaft von Liebhabern dra¬
matischer Literatur. Am 15. November, 4. Leseaufführung:
„Das Vermächtnis“, Schauspiel in 3 Akten von Arthur
Schnitzler. — Das Schnitzlersche Schauspiel, dessen Be¬
unser deutscher dramatisch=literarischer Verein
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uns gestern vermittelt hat, ist gerade für eine Lese¬
aufführung vorzüglich geeignet. Das didaktische Element
überwiegt in dem Drama, es ist alles mehr Vortrag als
lebendige Handlung oder unmittelbare Gefühlsäußerung.
Die Personen des Stückes sprechen mehr über das, was sie
tun, als daß sie selbst handeln und leiden. Jede Handlung
ist von einer Erklärung irgend eines der Raisonneure des
Stückes — bald ist es der Professor Losatti, bald Dr. Ferdi¬
nand Schmidt, bald der Ministerialkonzipist Gustav Brander
begleitet. Dramatisch ist diese Art der Vermittlung der
Ideen des Autors nicht, aber in dem Vortrag eines Lese¬
abends durchaus eindrucksvoll und zu ernstem Nachdenken
anregend. — Ein Lebensproblem ist es, das der Verfasser
den Zuhörern im Theater durch den Mund seiner Bühnen¬
figuren auseinandersetzt. In freier, außerehelicher Ver¬
bindung haben sich zwei Menschen in Liebe zu ehelicher
Gemeinschaft zusammengefunden. Es ist, wie der Verfasser
es darlegt, eine wahre Ehe, obgleich ihr die kirchliche und
gesellschaftliche Sanktion fehlt. Auf dem Sterbebett gesteht
Hugo Losatti seinen Eltern, daß er schon seit vier Jahren
mit einer Frau, die ihm in Liebe treu ergeben ist, in freier
Ehe zu##mengelebt hat, daß ein Kind dieser illegitimen
Verbindung entsprossen ist. Der Sterbende fleht seine
Eltern an, sich nach seinem Tode der verlassenen Mutter
und des Kindes anzunehmen. Das ist sein Vermächtnis.
Der Wunsch eines Sterbenden ist heilig, und die Eltern
geloben ihm die Erfüllung seines letzten Willens. Die ver¬
lassene Geliebte des Verstorbenen und das illegitime Kind
finden Aufnahme in der Familie. Nun schildert der Ver¬
fasser mit überzeugender, dem Leben, wie es ist, ent¬
nommener Argumentation die Folgen eines solchen den
Usancen der Gesellschaft strikt zuwiderlaufenden Familien¬
verhältnisses, das sich aus dem Zusammenleben der
illegitimen Frau und ihres Kindes mit der Familie
des Verstorbenen ergibt. Der gesellschaftliche Verkehr
mit der Familie, die gegen die Satzungen der gesellschaft¬
lichen Moral verstoßen yat, wird diskret aber nachdrücklich
abgebrochen. Auch wird die Verlobung der Tochter des
Hauses mit dem prinzipienstarren, im Banne streng ge¬
sellschaftlicher Korrektheit befangenen Dr. Ferdinand Schmidt
durch die geschaffene Situation in Frage gestellt. Auch der
sonst in Sachen der bürgerlichen Moral liberal denkende
Familienvater Professor Losatti wird in seinen Grund¬
sätzen schwankend, besonders als das Band, das die Fa¬
milie mit der Geliebten des Verstorbenen verband, durch
den Tod des Kindes zerrissen wird. Durch eine weitere Ver¬
kettung von Umständen wird — was der Autor psycho¬
logisch überzeugend zu motivieren weiß — die Lage in der
Familie zum Schluß soweit zugespitzt, daß es der illegetimen
Frau des Haussohnes nahegelegt wird, das ihr nach dem
Tode ihres Geliebten gebotene Heim zu verlassen. Die
Einsame, nach dem Tode ihres Mannes und ihres Kindes
nun ganz Vereinsamte sieht jetzt keinen anderen Ausweg,
als dem Leben, das für sie, die Heimatlose, jeden Wert ver¬
loren hat, ein jähes Ende zu machen. Mit Selbstvor¬
würfen der Frau und der Tochter des Hauses, die sich der
Lieblosigkeit gegen die Frau des Verstorbenen anklagen,
schließt das Drama. Die beiden Frauen fühlen es, daß sie
das „Vermächtnis“ des teuren Toten nicht erfüllt haben.
Mit feinem seelischen Verständnis für die Frauenpsychologie
hat der Verfasser in diesen beiden Frauen das Ueberwiegen
des natürlichen Gefühls über die Forderungen der gesell¬
schaftlichen Moral zum Ausdruck gebracht.
Das Vortragsdrama, in dem alles die psychologische
Anschauung, der Antrieb zu jeweiligem Handeln, der
Dialog — vom Autor ausgeht, nicht von den handelnden
Menschen auf der Bühne, wurde — wie immer — von den
Damen und Herren, die in der Leseaufführung tätig waren,
einwandsfrei zum Vortrag gebracht. Im ersten Akt war
das Ensemble noch nicht ganz sicher und fehlerfrei, im
weiteren Verlauf des Stückes wurde aber alles fließend
und natürlich zur Darstellung gebracht, sowohl von den
geübten Darstellern und Darstellern des Vereins, als auch¬
von einer Dame der Gesellschaft, die zum erstenmal an den
Böhnenvorträgen mit sicherer Anpassung an das Spiel der
übrigen teilnahm. Ein näheres Eingehen auf die einzelnen
schauspielerischen Leistungen verbietet sich durch den
Soviel sei aber auch
Charakter der Leseaufführung.
diesesmal wieder anerkennend hervorgehoben, daß nicht'nur
der Vortrag der Rollen, sondern auch die Charakteristik der
Personen des Schauspiels den Liebhabern dramatischer
Literatur so zutreffend gelang, daß sie in den Hauptzügen
zu keinerlei kritischen Ausstellungen; solbst als öffentliche
Theateraufführung betrachtet — Anlaß gibt.
A. Stürzwage.