II, Theaterstücke 10, Das Vermächtnis. Schauspiel in drei Akten, Seite 282

10. Das Vernaechtnis box 16/5
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bei seinem Leisten bleiben wollte. Karl Rößler hat ein nicht übte
Stück aus dem Schauspielermilien gezogen. Dem Menschen vur
heute ist seine tüchtige Erfahrungstechnik gewachsen. Der Mann
großen geschiehtlichen Charakteren den Puls zu fühlen, das ewie
Menschliche uid menschlich Ewige historischer Wendepunkte zu er
fassen und in der Beschränkung auf einige Typen zu veranschan¬
lichen, der Mann ist dieser zum Federhandwerk übergelaufene Mime
nicht. Da es nun in der Geschichte keinen erhabeneren Charakter
gibt als dien Bettelrabbi, der die Liebe zur Religion machen wollte,
und keineen bedeutsameren Moment als die Geburt des Christentums,
so bietet der Versuch eines gewandten Szenikers, diesen Stoff zu
zwingen, just keinen erhebenden Genuß. Regie und Darstellung
vergfeudeten viel guten Willen an eine verlorene Sache. Die lebens¬
Und liebegierige Jüdin des Fräuleins Marie Guttmann glühte und
—sprühte, der naturselige Grieche des Herrn Nerz trug auch innerlich
den Weinlaubkranz, Herr Weil lieh dem pharisäischen Rabbi Echt¬
heitsgepräge, aus der Masse der nach Erlösung hungernden Elenden
hoben sich die Bettlergestalten der Herren Straßni und Wieland
besonders überzeugend hervor, die Melancholie des reichen Jünglings,
das Unglück im Prunkkleide, veranschaulichte Herr Valberg mit
schlichter Wärme und, last not least, der starke Geist, der in der
Josefstadt über allen Wassern schwebt, Jarno, gab dem galiläischen
Wucherkönig, der in diesem Drama über den Künder der Liebe zu
triumphieren scheint, markigen Ton und feste Haltung. Man mußte
an den Kohlengrubenbesitzer denken, in dem die Schilderung des
Fegefeuers bloß den Gedanken weckt: „Wenn ich doch den Teufel
dazu bringen könnte, von mir die Kohlen zu beziehen!“
Heinr. Glücksmann.
Lüstspieltheater. „Das Vermächtnis.“ Schauspiel in vier Akten von Arthur
Schnitzler. Aufgeführt am 10. November 1908.

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In seinem feingeschriebenen Buch „Wien"*) hat Servaes so
treffend Arthur Schnitzler gezeichnet: „Von Haus aus ist Schnitzler
nichts weniger als Asthet; vielmehr war er ehedem Arzt. Das ver¬
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schaffte ihm wohl seine bewunderungswürdige Kenntnis der intimsten
Eigenheiten der menschlichen Natur. .. er kennt alle Gebundenheiten
der Menschen... handhabt die Sprache mit köstlicher Meisterschaft
wie eine zarte Lanzette, mit der er die subtilsten Nervenfäserchen im
organischen Gewebe bloßlegt.“ Die Probe auf die Richtigkeit dieser
Charakterisierung kann man im Vermächtnis“ machen. Ein Schau¬
spiel von packender dramatischer Wirkung, aber von dürrer Handlung:
Üiber Wunsch des sterbenden Sohnes nehmen die Eltern seine „Liebe“
und sein Kind ins Haus. Nicht für lange, denn das Kind stirbt und
„sie“ wird fortgeschickt. Auf die Handlung kommt es Schnitzler nicht
an. Er will die Macht der Konvention schildern, zeigen, wie sie
alle Gefühle niederdrückt, wie die Heiligkeit des Wortes vor der
Gewalt des gesellschaftlichen Zwanges zurücktreten muß. Der krasse
) Siehe die Nummern 25 und 34 der „Wage“, Jahrgang 1908, in denen
eine Besprechung des Buches und ein Abschnitt daraus veröffentlicht wurden. D. R.