9.3. Der
ruene Kakadu
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Seite 4.
Beilage zur Allgemeinen Zeitung.
Nr. 136.
fahren (come l’Autore medesimo a simile affetto rispose
jeweiligen Zeitseele zu ihrem wesentlichsten Inhalt. Die
Frage nach dem Zustand und der Herkunft, dem Sein
in ci5) und die Chiose von Montecasino erzählen geradezu,
und dem Gewordensein der modernen Seele ist es denn
eine Ohnmacht wie die hier berichtete, sei Dante einst zu¬
auch, von welcher Lorenz selbst gesteht, daß sie ihn bei der
gestoßen, als er Beatrice bei einem Banket unerwartet be¬
Betrachtung der Literatur unsrer Tage hauptsächlich reizt,
gegnet habe (s. meinen Dante S. 11). In der That kann
und die er bei den betreffenden Werken aufwirft. Da
man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß Francesca's
nun der Naturalismus diejenige Kunstgattung darstellt,
Rede die schmerzvollsten persönlichen Erinnerungen des
in welcher die Zeitseele ihren letzten bestimmtesten Aus¬
Dichters aufregt, wie mir denn nie zweifelhaft war, daß
druck erhalten hat, von dem die übrigen modernsten
Niemand den fünften Gesang des Inferno zu schreiben ver¬
Richtungen ihren Ausgang genommen haben und auf den
mochte, der nicht der Liebe Glück, Leid und Noth an sich
sie meist in negativ abwehrendem Sinn zurückweisen, so
ist es ganz berechtigt, daß Lorenz seine Darstellung der
selbst erfahren hatte (s. eb. S. 150). Es kommt aber bei
Zeitseele in der Literatur mit einer Betrachtung über das
Dante noch etwas weiteres in Betracht. Schon Rossetti
Wesen des Naturalismus eröffnet.
glaubte aus der Terzine den Wiederhall der durch die Ver¬
Diese Betrachtung nun ist ebenso feinsinnig wie zu¬
bannung und die politische Niederlage verwundeten Seele
treffend. Mit Recht faßt Lorenz den Naturalismus als
des Dichters zu vernehmen. In der That; wenn die so¬
Opposition und Negation gegen eine idealistische Welt¬
genannten Steincanzonen und namentlich die Canzonen
anschauung und Kunstrichtung auf. Die Kunst soll „Wahr¬
VIII und IX (die Montanina Canzon und „Io son venuto
heit“ geben, sie soll uns das Wesen der Dinge im sinn¬
al punto della rota“) einen politischen und nicht einen
lichen Schein offenbaren. Man glaubt aber erst mehr an
erotischen Sinn haben, wie ich glaube nachgewiesen zu
eine Wahrheit jenseit der Wirklichkeit, an eine „übersinn¬
liche“ Idee, die sich in der Wirklichkeit bloß spiegelt. Die
haben (Dante S. 244 f.), so wird man sich kaum der Annahme
Wirklichkeit selbst soll Wahrheit sein, und so wird die
erwehren können, daß in den von dem Dichter persönlich
schlichte Wiedergabe dieser Wirklichkeit, die „Wahrheit“ im
so stark betonten Ausdruck verlorenen Glücks sich auch ein
gewöhnlichen wissenschaftlichen Sinn des Wortes zum
gutes Stück politischen Leids hineinmischt.
Leitstern der neuen naturalistischen Kunst. Aus dem Be¬
mühen, die Erscheinungen der Außenwelt möglichst ge¬
III.
treu und unverfälscht darzustellen, ergibt sich, daß die
naturalistische Kunst möglichst unpersönlich, weich, blaß,
Der Text unsrer Terzine ist in vollkommen gesicherter
farblos, zart sein muß. Die Dinge und Verhältnisse
Gestalt handschriftlich überliefert. Die Handschriften bieten
haben das Uebergewicht und drücken mit ihrer Last und
keine bedeutenden Varianten und wir können darüber kurz
Schwere auf die wachsweiche Künstlerseele. Der Künstler
hinweggehen.?)
ist den Dingen unterthan, die Verhältnisse (das „Milien")
(Schluß folgt.)
beherrschen und bestimmen ihn. Daraus leitet Lorenz die
Thatsache ab, daß es dem naturalistischen Drama an
Handlung fehlt, weil die Menschen sich hier von den Ver¬
hältnissen treiben lassen, ohne selbstthätig ihr Schicksal zu
Die Literatur am Jahrhundert=Ende.
bestimmen. Das naturalistische Drama hat keinen führenden
Helden, in ihm herrscht keine übermenschliche und über¬
Von Prof. Dr. Arthur Drews (Karlsruhe).
irdische Schicksalsmacht, welche die Menschen nach ihren
Unter diesem Titel hat Max Lorenz eine Sammlung
Zwecken leitet. Die Verhältnisse sind dumpfe, hart lastende
von Aufsätzen übermoderne Literaturwerke erscheinenlassen.!)
und schwer bewegliche Zustande, meistentheils sozialer
Mit einer Ausnahme und in etwas veränderter Form sind
Natur u. s. w. Nun erzeugt aber Leiden Sehnsucht
diese Aufsätze als einzelne und selbständige Artikel schon
nach einem freieren Zustand. So wird das lyrische
in den „Preußischen Jahrbüchern“ erschienen, für welche
Phantasiestück und das Märchen das künstlerische Be¬
Lorenz Literatur= und Theaterberichte schreibt. Dennoch
freiungsmittel des naturalistischen Individuums, in ähn¬
war es durchaus gerechtfertigt, jene Aufsätze nunmehr zu
licher Weise wie der Zukunftsstaat das phantastische und
einem Bande zu sammeln und in dieser Form neu heraus¬
idealogische Befreiungsmittel der proletarischen Masse
zugeben; tritt doch nicht nur erst so ihr geschlossener
darstellt.
Charakter deutlich hervor, sondern erheben sich dieselben
Selbstverständlich wird dabei auch von Lorenz das
doch auch hoch über die gewöhnliche Art der Theater¬
Verhältniß der naturalistischen Kunstrichtung zur Natur¬
und Literaturberichte. Wodurch sich nämlich diese Aufsätze
wissenschaft nicht übersehen. Meiner Ansicht nach hätte
vor allem auszeichnen, ist, daß dieselben den literarischen
er dieses Verhältniß sogar noch mehr in den Vordergrund
Erzeugnissen gegenüber einen bestimmten Standpunkt ein¬
rücken können, als er faktisch thut. Denn thatsächlich ist
nehmen und nach einheitlichem Gesichtspunkt abgefaßt
der Naturalismus im engsten Auschluß an die natur¬
sind. Das sollte sich eigentlich von selbst verstehen, ist
wissenschaftliche Zeitströmung entstanden und von seinen Ver¬
aber sehr selten zu finden in einer Zeit wo die greulichste
fechtern als eine einfache Uebertragung naturwissenschaftlicher
Zerfahrenheit und Unklarheit auf ästhetischem Gebiet
Prinzipien und Methoden auf das Gebiet der Aesthetik be¬
herrscht und die absolute Prinzipien= und Standnunkts¬
gründet worden; und was Lorenz aus dem Verhältniß
losigkeit den gemeinsamen Charakter der meisten Erörte¬
des Künstlers zur Wirklichkeit ableitet, läßt sich ebenso
rungen literarischer Erscheinungen ausmacht.
gut aus der materialistischen Weltanschauung deduziren, wie
Nach Lorenz offenbart sich in den Kunstwerken einer
sie jener Kunstrichtung zugrunde liegt. Weil in der natur¬
Zeit die Seele derselben in ihren tiefsten Erschütterungen
wissenschaftlichen Welt der Atome und Moleküle alles
und feinsten Zuckungen. Demnach hat die Entwicklung
gleichwerthig ist und weil hier alles rein mechanisch zu¬
der Kunst, bezw. der Literatur die Entwicklung der
geht, darum darf auch der Naturalismus die Menschen
nur als Sklaven des Milieus betrachten, die nur von
2) Lombardi (Ed. Fir. 1830) hat die Lesung: v. 122. Non
außen bestimmt und gebildet werden, und sind ihm die
Ia miseria e ció fa il tuo Dottore des Cod. Angelic. VI, 22. —
„Helden“, die über das Mittelmaß emporragen, un¬
Der Cod. Cassinese hat: 121 E ella a me nesun magiur etc.
sympathisch. Wenn er sich aber nicht damit begnügt, die
Moore (Contributions to the textual Criticism of the DC.,
Menschen und Verhältnisse wesentlich nur nach ihrer
Cambr. 1889, 39) gibt flg. Varianten: 121 E quella ACEGHLMPOAu.
passiven Seite darzustellen, sondern das Platte, Alltäg¬
— ninn C. — 122 E che aj. — 123 il mio dottore K.
liche, Gemeine aufsucht und das Häßliche geradezu kultivirt,
Mein Codex Buoncompagni-Kraus hat 121
so dürfte ein Hauptgrund hiefür in seiner Opposition
Et quell ad me nesun magior dolore
gegen den Idealismus zu suchen sein: er muß in seiner
Che ricordarse del tempo felice
Wiedergabe der Wirklichkeit dem Schönen aus dem Wege
Nela miseria e cio sa il tuo doctore.
gehen, um nicht den Schein zu erwecken, als wäre das dar¬
1) Bei J. G. Cotta in Stuttgart.
44 é. (4A4
820
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