Kirche!“
Das Wesen der modernen Seele beruht in einer ge¬
wissen Gebrochenheit oder Zwiespältigkeit, einer Dis¬
harmonie zwischen Innenleben und Außenwelt einem
Mißverhältniß zwischen Sehnsuchtsfülle und Erfüllungs¬
möglichkeit, Wollen und Können. Sehr klar findet Lorenz
dies zum Ausdruck gebracht in Fulda's „Herostrat“
dessen Inhalt er in feinsinnigster Weise analysirt. Daß
aber nicht nur die Seelen unsrer Tage durch den Zwie¬
spalt des Lebens gefährdet werden, sucht Lorenz an
Hebbels „Herodes und Marianne“ nachzuweisen, den er
als den „klassischen Dichter einer am Bruch unheilvoll
leidenden Uebergangszeit" bezeichnet. Es folgt nun ein
Aufsatz über die beiden Lyriker Liliencron und Dehmel.
Was Lorenz über den Ersteren vorbringt, gehört wohl
zu dem Feinsten und Besten, was über diesen „ganz famosen
Dichter“ gesagt worden ist. Der Absicht, etwas über die
spezifisch n ibliche Art der künstlerischen Begabung zu er¬
fahren un
irkunden, wie die literarisch thätigen Frauen
Leben
#nschen auffassen, dient der Aufsatz über
„Frauenwect. von Maria Janitschek Gabriele
Reuter, Helene Böhlau, Sophie Höchstetter,
Hans v. Kahlenberg. Das Beste aber hat sich Lorenz
bis an den Schluß seines Buches aufgespart; es sind die
drei Aufsätze über Sudermanns „Johannes“, „Die
drei Reiherfedern“ und über „Theodor Fontane“
Bekanntlich gehen die Urtheile über Sudermann sehr
weit auseinander. Es gibt Leute, die ihm die Literatur¬
fähigkeit überhaupt abstreiten und ihn bestenfalls als
einen erfolgreichen Theaterschriftsteller gelten oder viel¬
mehr nicht gelten lassen möchten. In gewissen Kreisen ist
es geradezu Mode geworden, diesen Dichter als einen
bloßen „Macher“ zu behandeln. Ich habe diese Art der
Kritik nie begreifen können. Bei Lorenz ist nun eine Be¬
urtheilung Sudermanns zu finden, die diesem gegenüber
eine ganz andere Stellung einnimmt als die Mehrzahl
der „maßgebenden" Kritiker. Sudermann fällt, wie Lorenz
mit Recht bemerkt, aus der Entwicklungsreihe der modernen
Literatur heraus, die sich von Hauptmann bis Maeterlinck
und Hoffmannsthal hinzieht. Er ist eine für sich stehende,
selbständige und selbstherrliche Persönlichkeit von Kraft
und Eigenart". Sudermann ist kein Naturalist. „Er
spiegelt nicht Gestalten wieder, sondern er schafft selbst
welche. Er schafft sie aus dem Innern heraus“ Er ist
in seinem Verhältniß zur Außenwelt männlich, während
Hauptmann weiblich ist. Er hat nicht wie dieser bloß
Sinn für das Individuelle, sondern auch für das Typische.
„Das Ruhige, Effektlose, Undramatische, das Fehlen der
Handlung und des handelnden, führenden Helden, die
Art, einen Charakter plastisch herauszuarbeiten unter Ver¬
zicht auf lebhafte Aktionen — das alles, was früher als
Mangel eines Dramatikers getadelt wäre, wurde in der
Periode des Naturalismus als erstes und vornehmes,
rein künstlerisches Streben empfunden“. Darin dürfte
in der That der Hauptgrund liegen, weßhalb unsre „Ma߬
gebenden“ Sudermann nicht gerecht werden, nicht gerecht
werden wollen. Es ist ihre einseitige ästhetische Theorie,
die ihnen das Verständniß für Sudermann unterbindet.
Sie blicken noch immer ausschließlich durch die Brille des
Naturalismus und sind blind, wo diese Brille nicht zureicht.
Jene Kritiker lassen sich den Traumidealismus „Hannele's“
die Märchenpoesie der „Versunkenen Glocke“, die Ver¬
flüchtigung des Seins im Schein und Spiel ja selbst
Macterliucks trübe Mystik und abstrakt idealistische Phan¬
tastik gefallen, da die Vorstellungswirklichkeit ja auch eine
Wirklichkeit ist und die psychologischen Gesetze, nach denen
sich der Traum oder das Märchen abspielt, ja gleichfalls
Natur gesetze sind, so wie sich unsre Naturforscher den sub¬
jektiven Idealismus Kants gefallen lassen, da sie damit ja
scheinbar gleichfalls auf dem Boden der Erfahrung bleiben.
Aber daß Sudermann das Leben als ein reales auffaßt
und es trotzdem nicht einfach passiv wiederspiegelt, sondern
15 S 147 41
Und doch glaube ich, daß Sudermann sich in ästhetischer
Hinsicht auf einem richtigeren Weg befindet, als alle
Rabulisten und abstrakt idealistischen Traumkünstler und
Romantiker, sowie ich auch nur diejenige philosophische
Richtung für die wahre halten kann, die Idee und Wirk¬
lichkeit nicht abstrakt voneinander losreißt und über der
Betrachtung der einen die Existenz der anderen leugnet,
sondern die beide in konkreter Weise in eins zu fassen
sucht und die Wirklichkeit als die Erscheinung und Reali¬
sirung der Idee begreift. Aesthetisch entspricht diesem Stand¬
punkt der konkrete Idealismus, wie Hartmann ihn ge¬
nannt hat, und gerade diesem scheint mir Sudermann
unter allen anderen Dramatikern am nächsten zu kommen.
Gegen die Mängel Sudermanns ist auch Lorenz nicht
blind. Er findet, daß dieser Dichter es sich oft zu leicht ge¬
macht habe, z. B. in der „Schmetterlingsschlacht“, im „Gluck
im Winkel“. Solche gewissermaßen spielend geschaffene Werke
machen naturgemäß auch den Eindruck des Spiels, sie er¬
scheinen „virtuos“ und scheinen dem Einwurf der Gegner,
den diese in dem Worte „Mache“ zusammenfassen, recht zu
geben. Erst an dem gewaltigen Stoff der Johannes=Tra¬
gödie hat sich das riesige Können des Dichters voll ent¬
faltet. Die Vorwürfe, die man gegen dieses Drama, seinen
Helden, die Figur der Salome u. s. w. erhoben hat, weist
Lorenz sehr geschickt zurück. Er sieht im „Johannes“ mit
Recht ein wahrhaft historisches Drama, das bei aller vor¬
trefflichen Wahrung des Zeitkolorits doch eine Stimmung
und ein Wollen offenbart, die auch uns nicht fremd sind.
Noch bedeutender vielleicht erscheint ihm jedoch Sudermann
in den „Drei Reiherfedern“. Die Analyse und Deutung
dieses Werkes, das bisher weder beim Publikum, noch bei
der Kritik die Würdigung und das Verständniß gefunden,
die ihm zukommen, bilden den Glanzpunkt des Lorenz'schen
Buches. Sehr richtig bemerkt er, daß Abendpublikum und
Nachtkritik nicht geeignet sind, entscheidend und endgültig
über dieses Drama abzuurtheilen, und nur sie haben sich
bis jetzt darüber vernehmen lassen. Ich selbst habe die
„Drei Reiherfedern“ seinerzeit mit großer Freude als eine
wahrhaft schöne und tiefsinnige Ideendichtung begrüßt und
meine Studenten nachdrücklichst auf dieselbe hingewiesen,
und ich halte sie auch heute noch trotz aller verwerflichen
Urtheile, die mir inzwischen darüber zu Gesicht gekommen
sind, für das gehaltreichste und bedeutendste Werk der
modernen dramatischen Literatur, ohne mir selbstverständ¬
lich eine Meinung darüber anzumaßen, ob das Werk von
der Bühne herab hält, was es beim Lesen verspricht. Es
war mir daher eine große Genugthnung, mich hierüber mit
Lorenz völlig einverstanden zu finden. Wie thöricht und
vorurtheilsvoll es ist, die „Drei Reiherfedern“ „das zu¬
sammenhangloseste und verworrenste Bühnenwerk der letzten
Jahre“ zu nennen, wie dies einer unsrer „Maßgebenden“
gethan hat, daran wird Niemand mehr zweifeln, der Lorenz'
glänzende Wiedergabe ihres Inhalts gelesen hat. Ganz
verkehrt ist es auch, das Stück ausschließlich als „Märchen¬
drama“ zu betrachten und es so darzustellen, als ob Suder¬
mann die Lorberen der „Versunkenen Glocke“ nicht hätten
schlafen lassen. Mit dem gleichen Recht könnte man auch
„Hamlet“, „Lear“ und „Faust“ als Märchendramen be¬
zeichnen. Es handelt sich hier nicht um eine bloß spiele¬
rische Aneinanderreihung phantastischer Situationen und
Bilder, sondern um eine Versinnlichung und Symbolisirung
innerster persönlichster Erlebnisse, die zugleich ein Stück
der Zeitseele selbst zur Darstellung bringen. Prinz Witte
bedeutet nach Lorenz einen vorgeschritteneren Typus der
wieder erwachten Seele. Die Kinderseele Maeterlincks und
Hoffmannsthals ist weiter herangewachsen zur Kraft und
zur Sehnsucht des Jünglings. „Wenn die Zeit der Kind¬
heit und der Spiele vorüber ist regt sich im Jüngling der
Drang zum Leben. Mit dem Lebensdrang steht der Lebens¬
widerstand auf, und mit dem Lebenswiderstand steigt des
Lebens Rätsel empor. Was ist das Leben? Wo ist sein
Glück? Wie verhalten sich Sehnsucht und Erfüllung? Das
ist das Problem, vor das die romantische Jünglingsseele
des Prinzen Witte gestellt ist, das sie nicht lösen kann und
dem sie darum zugrunde geht.“ Lorenz nennt das
(Derk „eine romantische Tragödie“. Vielleicht könnte man
is noch zutreffender die „Tragödie der Romantik“ nennen.
Es bringt die Seele der letzteren mit ihrer abstrakten Sehn¬
sucht, ihrem Gefühlsüberschwang und ihrer Willensschwäche
zum symbolischen Ausdruck. Es zeigt=in der lebensvollen
Figur das Leben, wie aus den Irrfahrten der Romantik
der Mensch zwar nicht wundenlos und heil aber doch in
neuer Kraft und Lebensfülle hervorgeht. Es lehrt, daß
nur demjenigen die Welt gehört, der Sehnsucht und Er¬
füllung in eins verspricht, der nicht abstrakten Idealen
nachjagt, sondern das Leben muthig zu ergreifen und zu
beherrschen wagt. Es zeigt auch zugleich der Kunst den
Weg aus dem dumpfen Druck des Naturalismus und den
Nebeln des abstrakten Idealismus zu einem neuen Ideal,
in welchem Idee und Wirklichkeit sich nicht mehr gegen¬
seitig verschließen, sondern diese nur die Versinnlichung
und Offenbarung jener darstellt.
Das Wesen der modernen Seele beruht in einer ge¬
wissen Gebrochenheit oder Zwiespältigkeit, einer Dis¬
harmonie zwischen Innenleben und Außenwelt einem
Mißverhältniß zwischen Sehnsuchtsfülle und Erfüllungs¬
möglichkeit, Wollen und Können. Sehr klar findet Lorenz
dies zum Ausdruck gebracht in Fulda's „Herostrat“
dessen Inhalt er in feinsinnigster Weise analysirt. Daß
aber nicht nur die Seelen unsrer Tage durch den Zwie¬
spalt des Lebens gefährdet werden, sucht Lorenz an
Hebbels „Herodes und Marianne“ nachzuweisen, den er
als den „klassischen Dichter einer am Bruch unheilvoll
leidenden Uebergangszeit" bezeichnet. Es folgt nun ein
Aufsatz über die beiden Lyriker Liliencron und Dehmel.
Was Lorenz über den Ersteren vorbringt, gehört wohl
zu dem Feinsten und Besten, was über diesen „ganz famosen
Dichter“ gesagt worden ist. Der Absicht, etwas über die
spezifisch n ibliche Art der künstlerischen Begabung zu er¬
fahren un
irkunden, wie die literarisch thätigen Frauen
Leben
#nschen auffassen, dient der Aufsatz über
„Frauenwect. von Maria Janitschek Gabriele
Reuter, Helene Böhlau, Sophie Höchstetter,
Hans v. Kahlenberg. Das Beste aber hat sich Lorenz
bis an den Schluß seines Buches aufgespart; es sind die
drei Aufsätze über Sudermanns „Johannes“, „Die
drei Reiherfedern“ und über „Theodor Fontane“
Bekanntlich gehen die Urtheile über Sudermann sehr
weit auseinander. Es gibt Leute, die ihm die Literatur¬
fähigkeit überhaupt abstreiten und ihn bestenfalls als
einen erfolgreichen Theaterschriftsteller gelten oder viel¬
mehr nicht gelten lassen möchten. In gewissen Kreisen ist
es geradezu Mode geworden, diesen Dichter als einen
bloßen „Macher“ zu behandeln. Ich habe diese Art der
Kritik nie begreifen können. Bei Lorenz ist nun eine Be¬
urtheilung Sudermanns zu finden, die diesem gegenüber
eine ganz andere Stellung einnimmt als die Mehrzahl
der „maßgebenden" Kritiker. Sudermann fällt, wie Lorenz
mit Recht bemerkt, aus der Entwicklungsreihe der modernen
Literatur heraus, die sich von Hauptmann bis Maeterlinck
und Hoffmannsthal hinzieht. Er ist eine für sich stehende,
selbständige und selbstherrliche Persönlichkeit von Kraft
und Eigenart". Sudermann ist kein Naturalist. „Er
spiegelt nicht Gestalten wieder, sondern er schafft selbst
welche. Er schafft sie aus dem Innern heraus“ Er ist
in seinem Verhältniß zur Außenwelt männlich, während
Hauptmann weiblich ist. Er hat nicht wie dieser bloß
Sinn für das Individuelle, sondern auch für das Typische.
„Das Ruhige, Effektlose, Undramatische, das Fehlen der
Handlung und des handelnden, führenden Helden, die
Art, einen Charakter plastisch herauszuarbeiten unter Ver¬
zicht auf lebhafte Aktionen — das alles, was früher als
Mangel eines Dramatikers getadelt wäre, wurde in der
Periode des Naturalismus als erstes und vornehmes,
rein künstlerisches Streben empfunden“. Darin dürfte
in der That der Hauptgrund liegen, weßhalb unsre „Ma߬
gebenden“ Sudermann nicht gerecht werden, nicht gerecht
werden wollen. Es ist ihre einseitige ästhetische Theorie,
die ihnen das Verständniß für Sudermann unterbindet.
Sie blicken noch immer ausschließlich durch die Brille des
Naturalismus und sind blind, wo diese Brille nicht zureicht.
Jene Kritiker lassen sich den Traumidealismus „Hannele's“
die Märchenpoesie der „Versunkenen Glocke“, die Ver¬
flüchtigung des Seins im Schein und Spiel ja selbst
Macterliucks trübe Mystik und abstrakt idealistische Phan¬
tastik gefallen, da die Vorstellungswirklichkeit ja auch eine
Wirklichkeit ist und die psychologischen Gesetze, nach denen
sich der Traum oder das Märchen abspielt, ja gleichfalls
Natur gesetze sind, so wie sich unsre Naturforscher den sub¬
jektiven Idealismus Kants gefallen lassen, da sie damit ja
scheinbar gleichfalls auf dem Boden der Erfahrung bleiben.
Aber daß Sudermann das Leben als ein reales auffaßt
und es trotzdem nicht einfach passiv wiederspiegelt, sondern
15 S 147 41
Und doch glaube ich, daß Sudermann sich in ästhetischer
Hinsicht auf einem richtigeren Weg befindet, als alle
Rabulisten und abstrakt idealistischen Traumkünstler und
Romantiker, sowie ich auch nur diejenige philosophische
Richtung für die wahre halten kann, die Idee und Wirk¬
lichkeit nicht abstrakt voneinander losreißt und über der
Betrachtung der einen die Existenz der anderen leugnet,
sondern die beide in konkreter Weise in eins zu fassen
sucht und die Wirklichkeit als die Erscheinung und Reali¬
sirung der Idee begreift. Aesthetisch entspricht diesem Stand¬
punkt der konkrete Idealismus, wie Hartmann ihn ge¬
nannt hat, und gerade diesem scheint mir Sudermann
unter allen anderen Dramatikern am nächsten zu kommen.
Gegen die Mängel Sudermanns ist auch Lorenz nicht
blind. Er findet, daß dieser Dichter es sich oft zu leicht ge¬
macht habe, z. B. in der „Schmetterlingsschlacht“, im „Gluck
im Winkel“. Solche gewissermaßen spielend geschaffene Werke
machen naturgemäß auch den Eindruck des Spiels, sie er¬
scheinen „virtuos“ und scheinen dem Einwurf der Gegner,
den diese in dem Worte „Mache“ zusammenfassen, recht zu
geben. Erst an dem gewaltigen Stoff der Johannes=Tra¬
gödie hat sich das riesige Können des Dichters voll ent¬
faltet. Die Vorwürfe, die man gegen dieses Drama, seinen
Helden, die Figur der Salome u. s. w. erhoben hat, weist
Lorenz sehr geschickt zurück. Er sieht im „Johannes“ mit
Recht ein wahrhaft historisches Drama, das bei aller vor¬
trefflichen Wahrung des Zeitkolorits doch eine Stimmung
und ein Wollen offenbart, die auch uns nicht fremd sind.
Noch bedeutender vielleicht erscheint ihm jedoch Sudermann
in den „Drei Reiherfedern“. Die Analyse und Deutung
dieses Werkes, das bisher weder beim Publikum, noch bei
der Kritik die Würdigung und das Verständniß gefunden,
die ihm zukommen, bilden den Glanzpunkt des Lorenz'schen
Buches. Sehr richtig bemerkt er, daß Abendpublikum und
Nachtkritik nicht geeignet sind, entscheidend und endgültig
über dieses Drama abzuurtheilen, und nur sie haben sich
bis jetzt darüber vernehmen lassen. Ich selbst habe die
„Drei Reiherfedern“ seinerzeit mit großer Freude als eine
wahrhaft schöne und tiefsinnige Ideendichtung begrüßt und
meine Studenten nachdrücklichst auf dieselbe hingewiesen,
und ich halte sie auch heute noch trotz aller verwerflichen
Urtheile, die mir inzwischen darüber zu Gesicht gekommen
sind, für das gehaltreichste und bedeutendste Werk der
modernen dramatischen Literatur, ohne mir selbstverständ¬
lich eine Meinung darüber anzumaßen, ob das Werk von
der Bühne herab hält, was es beim Lesen verspricht. Es
war mir daher eine große Genugthnung, mich hierüber mit
Lorenz völlig einverstanden zu finden. Wie thöricht und
vorurtheilsvoll es ist, die „Drei Reiherfedern“ „das zu¬
sammenhangloseste und verworrenste Bühnenwerk der letzten
Jahre“ zu nennen, wie dies einer unsrer „Maßgebenden“
gethan hat, daran wird Niemand mehr zweifeln, der Lorenz'
glänzende Wiedergabe ihres Inhalts gelesen hat. Ganz
verkehrt ist es auch, das Stück ausschließlich als „Märchen¬
drama“ zu betrachten und es so darzustellen, als ob Suder¬
mann die Lorberen der „Versunkenen Glocke“ nicht hätten
schlafen lassen. Mit dem gleichen Recht könnte man auch
„Hamlet“, „Lear“ und „Faust“ als Märchendramen be¬
zeichnen. Es handelt sich hier nicht um eine bloß spiele¬
rische Aneinanderreihung phantastischer Situationen und
Bilder, sondern um eine Versinnlichung und Symbolisirung
innerster persönlichster Erlebnisse, die zugleich ein Stück
der Zeitseele selbst zur Darstellung bringen. Prinz Witte
bedeutet nach Lorenz einen vorgeschritteneren Typus der
wieder erwachten Seele. Die Kinderseele Maeterlincks und
Hoffmannsthals ist weiter herangewachsen zur Kraft und
zur Sehnsucht des Jünglings. „Wenn die Zeit der Kind¬
heit und der Spiele vorüber ist regt sich im Jüngling der
Drang zum Leben. Mit dem Lebensdrang steht der Lebens¬
widerstand auf, und mit dem Lebenswiderstand steigt des
Lebens Rätsel empor. Was ist das Leben? Wo ist sein
Glück? Wie verhalten sich Sehnsucht und Erfüllung? Das
ist das Problem, vor das die romantische Jünglingsseele
des Prinzen Witte gestellt ist, das sie nicht lösen kann und
dem sie darum zugrunde geht.“ Lorenz nennt das
(Derk „eine romantische Tragödie“. Vielleicht könnte man
is noch zutreffender die „Tragödie der Romantik“ nennen.
Es bringt die Seele der letzteren mit ihrer abstrakten Sehn¬
sucht, ihrem Gefühlsüberschwang und ihrer Willensschwäche
zum symbolischen Ausdruck. Es zeigt=in der lebensvollen
Figur das Leben, wie aus den Irrfahrten der Romantik
der Mensch zwar nicht wundenlos und heil aber doch in
neuer Kraft und Lebensfülle hervorgeht. Es lehrt, daß
nur demjenigen die Welt gehört, der Sehnsucht und Er¬
füllung in eins verspricht, der nicht abstrakten Idealen
nachjagt, sondern das Leben muthig zu ergreifen und zu
beherrschen wagt. Es zeigt auch zugleich der Kunst den
Weg aus dem dumpfen Druck des Naturalismus und den
Nebeln des abstrakten Idealismus zu einem neuen Ideal,
in welchem Idee und Wirklichkeit sich nicht mehr gegen¬
seitig verschließen, sondern diese nur die Versinnlichung
und Offenbarung jener darstellt.