19.77
* Wiener Brief¬
dalgschicenuns Bürgertum und Hochadel. Die Wahr¬
Bil üner Prinzessen Luis# von Loburg¬
sesahn
Der
und die Schnitztertriloglr. Twerins Graechun. — Wesehscheftlich¬
Theattalisches. — Due deutsche Hülieron
—Daß man diesen Fall hier keineswegs als typische Gesetlschäfts¬
erscheinung betrachtet, zeigt unter anderm die Burgtheater=Auf¬
führung des „Grünen Kakadu“ von Schnitzler, worm die Deca¬
denz des französischen Adels, darunter eine sehr extravagante Mar¬
huise, bei Ausbruch des Bastillensturms geschildert wird. In Berlin
wurde der „Grüne Kakadu“ verboten, hier hat der fürsorgliche Censor
Hofrat v. Jettel das interessante Stückchen Weltgeschichte dem
Burgtheater gerettet, indem er durch scharfe Streichung der revo¬
lutionären Anwandlungen Schnitzlers den historisch=dramatischen
Rahmen und die Virtuosen=Kunststücke Sonnenthals in den Vorder¬
grund rückte. Der „Grüne Kakadu“ ist eine Spelunke, in der ein
früherer Schauspieldirector mit seinen Komödianten eine wirkliche
Verbrecherhöhle brutal nachahmt, um den abgestumpften Nerven
der Herzöge und Marquisen neue Reize zu bieten. Als Wirt
schimpft er zu demselben Zweck die vornehmen Gäste „Canaillen“,
die dem Henker entgegenreifen. Da gleichzeitig draußen das Toben
des Straßenpöbels den Bastillensturm ankündigt und wirkliche Ver¬
brecher und wirkliche Straßendemagogen in unserer Spelunke mit
den Komödianten und dem entarteten Hochadel durcheinander¬
wimmeln, entsteht ein grotesker Wirrwarr von Schein und Wirk¬
lichkeit, der in dem Hauptkomödianten Henry auf die Spitze ge¬
trieben wird, auf die Dolchspitze nach dem Muster von „Tabarin“.
und der „Pagliacci“. Henry spielt den Mörder aus Eifersucht so
naturgetreu, daß alle glauben, er habe wirklich den Herzog v. Car¬
dignan als Galan seiner jungen Frau getötet. Er erfährt jedochusne
dabei erst aus den Reden der Gäste von ihrer thatsächlichen Un¬.
Albar
treue. Der Herzog erscheint zu rechter Zeit lebendig in der Keller=soraus
„ bthür und nun erdolcht er ihn thatsächlich. Der Bastillensturm be¬ I
ffreit ihn als Nächer des entehrten Volks an der herrschendenist de¬
Abot Adelskaste vor Verantwortung. Diese einactige „Groteske“ ist geist=es den
Abolvoll ersonnen und mit nicht gewöhnlichem Talent für die Bühnes.
belebt, doch verliert sie in der Burgtheaterdarstellung, wo außer
Frau Mitterwurzer als Marquise eigentlich niemand die den Fran¬
zosen abgelauschte schlagkräftige Diction völlig trifft, wenn aucht
Sonnenthal die Vermengung von Schein und Wirklichkeit künst=
Aerisch meisterhaft durchführt. Und sie verliert auch durch die Zu¬
sammenstellung mit zwei andern Einactern, in welchen Schnitzlers
annähernd dasselbe Thema behandell: „Was ist nicht Spiel, das
wir auf Erden treiben? Es fließen ineinander Traum und Wachen,
Wahrheit und Lüge. Sicherheit ist nirgends“, wie sein Hypnoti¬
seur Paracelsus weise bemerkt. Und Schnitzler wendet diese Weisheit
in allen drei Fällen auf die Treue der Frauen an, bei denen er am
wenigsten „Sicherheit“ findet. Das eine Mal hypnotisirt der Wunder¬
mann Paracelsus in Basel eine tugendsame Bürgersfrau, daß sie er¬
wachend sich grundlos einbilden muß, sich einem Junker, der ihr
nachstellt, ergeben zu haben. Dann hypnotisirt er sie ein zweites
Mal, daß sie nur die reine Wahrheit sagen soll, und sie plaudert
ihrem Gatten eine Jugendliebe zu Paracelsus und gelegentliche,
Gelüste aus, die den Wahrspruch begründen sollen: „Wenn dus
mich hütest — nur in diesem Falle — kannst du mir vertrauen.“
Das feinste Illusions= und Ehebruchsstück Schnitzlers ist das zweite:
„Die Gefährtin.“ Ein gealterter Professor hat soeben seine junge
Frau begraben, ohne sonderlichen Kummer. Er wußte schon, als er
sie heiratete, daß er das junge Blut nur zwei Jahre für sich allein
besitzen würde. Er weiß, daß sie ihn dann mit seinem Assistenten be¬
trogen hat, und das genirte ihn wenig, ja er war nicht abgeneigt,
die beiden auch öffentlich zusammenzugeben. Aber er wird zormg,
als er hört, daß der Assistent außerdem mit einer Dritten seit Jahren
ordentlich verlobt ist und daß jenen keine Leidenschaft mit seiner
Frau verknüpfte, sondern nur ehebrecherische Liebelei, kaltes Gelüste.
Dem Publicum ergeht es ebenso, wie dem sonst übermäßig tole¬
ranten Professor. Große Leidenschaft entschuldigt auf der Bühne
alles, wenn die tragische Sühne folgt, aber diese ewige kalte Liebelei
in Schnitzlers Stücken ist abstoßend und widerlich. Wir verlangen
vom Dichter große warme Empfindung, und die wird uns nicht
ersetzt durch rafsinirt ausgeklügelte Gedankenspiele und feinste thea¬
tralische Mache. Obwohl während des Theaterabends geistig be¬
schäftigt, atmen wir erleichtert auf, wenn wir aus der ungesunden
Luft heraus sind. Wenn juristische oder philologische Haarspalter
zu Theaterdirectoren obrigkeitlich ernannt werden und Medicinex¬
ihnen die Stücke schreiben, so kann die wahre Kunst sich begraben
lassen. Schnitzler kennt und zeichnet die Frauen nur in krankhaften
Zuständen oder als Sumpfblüten, die er sich manchmal zu Idealen
aufputzt. Es ist fremdartige Spitzfindigkeit und nicht Wahrheit,
wenn er die Vertreterin ehrsamer deutscher Frauen ihrem Gemahl
sagen läßt: „Wenn du mich hütest — bleibe ich dir treu.“ Deutsche
Frauen sind zu stolz dazu und hüten sich selber. Schnitzler versteht
seine Theatergedanken tuperamentvoll mit kinematographischer Be¬
lebtheit auf die Bühn## stellen; könnte er sie zu der Energie
steigern, daß sie sich in purke Empfindungen umsetzen, mit Gemüts¬
wärme durchtränken, so würden wir ihn gern als bedeutenden Dra¬
mattker begrüßen.
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