II, Theaterstücke 9, (Der grüne Kakadu. Drei Einakter, 3), Der grüne Kakadu. Groteske in einem Akt, Seite 515

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Aus dem Berliner Kunstleben.
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werk. Gut beobachtete und originell gezeichnete Details, die sich aber nicht zu einheit¬
lichen Bildern zusammenschließen. Zahlreiche Einzelstudien erfreuen uns durch ihre
frappierende Lebenswahrheit, und das Ganze ist dennoch ohne Leben und ohne Wahr¬
heit. Es mutet uns an wie eine Sammlung naturalistischer Präparate, nicht wie ein
Stück lebendige Natur.
Mit der Darstellung des derbkomischen Stückes feierte das Deutsche Theater
wieder einen seiner glänzendsten Triumphe. Freilich darf man die künstlerischen
Leistungen in diesem Falle nicht allzu hoch einschätzen, da die Rollen den trefflichen Mit¬
gliedern des Ensembles fast durchweg auf den Leib geschrieben waren.
Im Berliner Theater hat sich Ernst v. Wildenbruch mit einer dra¬
matisierten Geschichtsfälschung, betitelt „Gewitternacht“, einen lebensgefährlichen
Durchfall zugezogen. Woher der Mißerfolg kam, darüber mögen sich seine Verehrer
streiten. Der Dichter selbst hatte alles gethan, was er irgend leisten konnte: es fehlte
weder an Kanonendonner, noch an Glockengeläute, weder an Militärmusik noch an
Wachtfeuern, weder an Prophezeiungen noch an rührenden Kinderszenen; es wurden
eine Menge erbauender und belehrender Ansprachen gehalten, von deren geschichts¬
philosophischer Tiefe jeder hinterpommersche Landrat und Kriegervereins=Vorsitzende
überwältigt werden mußte. Aber es half diesmal alles nichts. Die Hofloge war voll¬
ständig leer. Hoffen wir auf bessere Zeiten!
Der Monat März brachte im Lessingtheater die erste Aufführung der be¬
kannten Komödie „Die Erziehung zur Ehe“ von Otto Erich Hartleben.
Hartleben ist vielleicht der radikalste und schärfste soziale Satiriker, den Deutschland
gegenwärtig besitzt. Es sind nicht große, abendfüllende Laster und Schurkereien, gegen
die er seine treffsichere Geißel schwingt. Die korrekte, wohlgeborene Gemeinheit des All¬
tags langt er sich aus den molligen Winkeln hervor, in denen sie ungestört ihr patri¬
archalisches Dasein fristet, er geleitet sie mit aller Höflichkeit auf das weithin sichtbare
Schaffot, verabschiedet sich dann mit jovialem Lächeln von der Delinquentin und über¬
läßt die weitere Exekution dem geneigten Publikum. Hartlebens Komödiengestalten
sind keine Karikaturen, sondern friedliche Bürger des heiligen Reiches Philisteria, die der
unerbittliche Satiriker in allerhand heikle Sitnationen bringt, vor allerhand gransame
Fragen stellt, durch die sie wider ihren Willen genötigt werden, die tiefsten Heiligtümer
ihres Herzens zu öffnen und das blamable Interieur den Blicken der Spötter preis¬
zugeben. Selbst angesichts der tollsten Szenen haben wir immer die Empfindung, daß
nichts übertrieben wird, daß diese Leute absolut konsequent handeln, daß sie sich in der
gegebenen Lage eben notwendig so gebärden müssen, wie sie der Dichter zu unserem
Gaudium sich gebärden läßt. Das Stück weist in seiner technischen Okonomie manche
Mängel auf, aber der sonveräue Witz und der unwiderstehliche Charme Hartlebens half
siegreich über alle Klippen hinweg.
Allerneueste Dramatik brachten uns ein paar private Veranstaltungen des
„Akademisch=litterarischen Vereins“ und des „Intimen Theaters“,
sowie ein Premièren=Abend (18. März) des Deutschen Theaters: hier Hugo
v. Hofmannsthal, dort Maeterliuck. Was diese allerneueste Dramatik für
unsere Zeit bedeutet und für unsere Zukunft vielleicht bedeuten wird; ob sie eine not¬
wendige, wenn auch übertriebene Reaktion gegen den extremen Naturalismus ist, oder
lediglich als die taube Frucht exzentrischer Poetenlaunen gelten kann; ob sie, zur Reife
gediehen, immer nur eine Delikatesse für schöngeistige Gourmets bleiben wird, oder die
Fähigkeit besitzt, einst einen Bestandteil der litterarischen Volksnahrung zu bilden —
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