Faehrtin
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C
Schnißzlers „Die Gefährtin“ — „Hannele“.
Neueinstudierung im Lessing=Theater.
Als melancholische Einleitung für „Hanneles Himmelfahrt“
hatte man ein kleines Spiel von Artur Schnitzler hervor¬
gesucht. Mit seiner nächtlich durchschatteten Atmosphäre
sollte es die düstere Grundstimmung des Abends fördern.
Aber dem Dichter geschah mit dieser Ausgrabung kein Ge¬
fallen. Es drängte ihn in die ungewohnte Rolle, hinter
den Schauspieler zurücktreten zu müssen. Das Lebensvolle
des Einakters hieß Oskar Sauer. Es war das Schul¬
beispiel eines Darstellungserfolges.
Schon vor zehn Jahren hat man sich über die schwächliche
Konstitution des Stückes nicht getäuscht. Entwicklungsarm
entrollt das Problem verschwendeter Seelengröße ein
Alltagsbild. Ein Betrogener trägt die Treulose trockenen
Auges zu Grabe. Sein Lebensstolz ruht in dem Bewußt¬
sein, den Abfall der Gattin ohne Bitterkeit begriffen zu
haben. Da widerfährt ihm am Beerdigungstage die merk¬
würdige Enttäuschung, daß er der Sünderin statt einer
großen Leidenschaft bloß höchst gewöhnliche Verirrungen
zu verzeihen hat. Der verspätete Hinauswurf des Ver¬
führers erweist sich als unzeitgemäßer Temperaments¬
ausbruch. Und alles Mitgefühl für einen Desillusionierten
mündet in kühles Bedauern, daß ein Wissender mit so viel
Philosophie am Wesen der Dinge vorbeigedacht hat. Doch
die Bedenken schwiegen, solange Sauer die Rede mit
seinem M##schentum erwärmte und seine Augen sprechen
ließ, die in schmerzlichen Momenten wie Feuerräder auf¬
glühten. Und man vergaß alle Schiefheiten der Voraus¬
setzung, wenn in dem Dulder und Versteher das beleidigte
Gefühl urmächtig aufschrie. Ein Milder peitschte plötzlich
die Luft mit tragischem Schrecken. Aber die Ernüchterung
cam noch vor dem Fallen des Vorhanges. Auch hörte man
wieder Mathilde Sussin sprechen, die als befreundete
Trösterin alle Einwände wie eingelernte Stichworte vortrug.
Dem Dramolet aufgeregte Worte folgte die Tragödie
verzückten Sterbens. Mit unwandelbarer Treue hängen
wir an Hauptmanns liebreicher Märchendichtung, obwohl
die Juhre das Auge für störende Lichtflecke geschärft haben.
Es bleibt das herzbeklemmende Gespensterdrama einer ge¬
marterten Kinderseele, durchrieselt von Seligkeiten. Es ist
unser liebstes Gruselstück, dessen glühende Angste einem:
Traum entsteigen, den brennende Wahrhaftigkeit entzündet.
Der leidvolle, aus Daseinsfinsternissen erlauschte Ursprung
des Werkes tritt besonders bei der Aufführung des Lessing¬
Theaters ins Bewußtsein. Im Wettkampf mit visionären
Bildern herrscht hier die Erde. Was rings um Hannele
kreischt und flucht und sich menschlich oder unmenschlich ge¬
bürdet, vom grausig wilden Vater bis zum hüstelnden
Schneiderlein, erobert unwiderstehllch die Sinne. Alles
Geisterhafte und Himmlische war in der Wirkung begrenzter.
Es schwebten Engelsgestalten hernieder, die ganz seltsame
Stimmen hatten. Auch die künstlerische Beihilfe Ludwig
v. Hofmanns zauberte nicht überwältigend. Mir ist das
Holzgebälke des Armenhauses die liebste Dekoration.
Das Hannele der Ida Orloff ist nicht mit zu viel Illusions¬
möglichkeiten behaftet. Ihre Fiebersprache bevorzugt un¬
differenzierte Theatertöne, die alle Dämmerschleier durch¬
reißen. Und selbst in dieser Fassung schluchzt die Ergriffen¬
heit. Ein sanft durchleuchtetes Sinnbild menschlicher Güte
bot der Lehrer Gottwald des Herrn Monnard. Die Schlu߬
allegorie „Der Fremde“ hätte ein paar heißere Tropfen
vertragen. In ihrer Unvollkommenheit war die „Hannele“¬
Aufführung doch etwas ganz Kostbares. Sie gewährte uns,
was nur die Brahm=Bühne vermag: Märchenströme, durch¬
Emil Faktor.
zittert von irdischer Rauhheit.
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Schnißzlers „Die Gefährtin“ — „Hannele“.
Neueinstudierung im Lessing=Theater.
Als melancholische Einleitung für „Hanneles Himmelfahrt“
hatte man ein kleines Spiel von Artur Schnitzler hervor¬
gesucht. Mit seiner nächtlich durchschatteten Atmosphäre
sollte es die düstere Grundstimmung des Abends fördern.
Aber dem Dichter geschah mit dieser Ausgrabung kein Ge¬
fallen. Es drängte ihn in die ungewohnte Rolle, hinter
den Schauspieler zurücktreten zu müssen. Das Lebensvolle
des Einakters hieß Oskar Sauer. Es war das Schul¬
beispiel eines Darstellungserfolges.
Schon vor zehn Jahren hat man sich über die schwächliche
Konstitution des Stückes nicht getäuscht. Entwicklungsarm
entrollt das Problem verschwendeter Seelengröße ein
Alltagsbild. Ein Betrogener trägt die Treulose trockenen
Auges zu Grabe. Sein Lebensstolz ruht in dem Bewußt¬
sein, den Abfall der Gattin ohne Bitterkeit begriffen zu
haben. Da widerfährt ihm am Beerdigungstage die merk¬
würdige Enttäuschung, daß er der Sünderin statt einer
großen Leidenschaft bloß höchst gewöhnliche Verirrungen
zu verzeihen hat. Der verspätete Hinauswurf des Ver¬
führers erweist sich als unzeitgemäßer Temperaments¬
ausbruch. Und alles Mitgefühl für einen Desillusionierten
mündet in kühles Bedauern, daß ein Wissender mit so viel
Philosophie am Wesen der Dinge vorbeigedacht hat. Doch
die Bedenken schwiegen, solange Sauer die Rede mit
seinem M##schentum erwärmte und seine Augen sprechen
ließ, die in schmerzlichen Momenten wie Feuerräder auf¬
glühten. Und man vergaß alle Schiefheiten der Voraus¬
setzung, wenn in dem Dulder und Versteher das beleidigte
Gefühl urmächtig aufschrie. Ein Milder peitschte plötzlich
die Luft mit tragischem Schrecken. Aber die Ernüchterung
cam noch vor dem Fallen des Vorhanges. Auch hörte man
wieder Mathilde Sussin sprechen, die als befreundete
Trösterin alle Einwände wie eingelernte Stichworte vortrug.
Dem Dramolet aufgeregte Worte folgte die Tragödie
verzückten Sterbens. Mit unwandelbarer Treue hängen
wir an Hauptmanns liebreicher Märchendichtung, obwohl
die Juhre das Auge für störende Lichtflecke geschärft haben.
Es bleibt das herzbeklemmende Gespensterdrama einer ge¬
marterten Kinderseele, durchrieselt von Seligkeiten. Es ist
unser liebstes Gruselstück, dessen glühende Angste einem:
Traum entsteigen, den brennende Wahrhaftigkeit entzündet.
Der leidvolle, aus Daseinsfinsternissen erlauschte Ursprung
des Werkes tritt besonders bei der Aufführung des Lessing¬
Theaters ins Bewußtsein. Im Wettkampf mit visionären
Bildern herrscht hier die Erde. Was rings um Hannele
kreischt und flucht und sich menschlich oder unmenschlich ge¬
bürdet, vom grausig wilden Vater bis zum hüstelnden
Schneiderlein, erobert unwiderstehllch die Sinne. Alles
Geisterhafte und Himmlische war in der Wirkung begrenzter.
Es schwebten Engelsgestalten hernieder, die ganz seltsame
Stimmen hatten. Auch die künstlerische Beihilfe Ludwig
v. Hofmanns zauberte nicht überwältigend. Mir ist das
Holzgebälke des Armenhauses die liebste Dekoration.
Das Hannele der Ida Orloff ist nicht mit zu viel Illusions¬
möglichkeiten behaftet. Ihre Fiebersprache bevorzugt un¬
differenzierte Theatertöne, die alle Dämmerschleier durch¬
reißen. Und selbst in dieser Fassung schluchzt die Ergriffen¬
heit. Ein sanft durchleuchtetes Sinnbild menschlicher Güte
bot der Lehrer Gottwald des Herrn Monnard. Die Schlu߬
allegorie „Der Fremde“ hätte ein paar heißere Tropfen
vertragen. In ihrer Unvollkommenheit war die „Hannele“¬
Aufführung doch etwas ganz Kostbares. Sie gewährte uns,
was nur die Brahm=Bühne vermag: Märchenströme, durch¬
Emil Faktor.
zittert von irdischer Rauhheit.