II, Theaterstücke 8, Freiwild. Schauspiel in 3 Akten, Seite 6

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DAS NEUE RITTERDRAMA.
VON
ALFRED KERR.
Das neue Ritterdrama birgt nicht, wie das alte, eine Sehnsucht nach der
Wiederkehr vergangener Zeiten. Es zeigt die Ritter im Kampfe mit der Gegen¬
wart; die Gegenwart im Kampfe mit den Rittern. Die Ritter haben keine Knappen
mehr und sind nicht immer strahlende Gestalten. Sie sind oft lachhaft, oft be-
dauernswert, oft auffallend rüde. Sie werden nicht am glänzenden Hofe des
mächtigen Kaisers gezeigt, weil das, in Deutschland, die Censur verbieten
würde. Es giebt keine Erstürmung von Burgen, aber Kapitulation von Ritter¬
gütern. Das Gottesgericht hat die himmlisch inbrünstigen Formen abgelegt
und den Inhalt wichtigen Schautentums angenommen.
Das neue Ritterstück zeigt in seinen erschütterndsten und grössten Er¬
scheinungen, nämlich bei August Strindberg, die tragischen Nachteile eines
gewissen Ehrgefühls; des „Ehrgefühls, welches die höheren Klassen ererben
von wo von der Barbarei, von der asiatischen Urheimat, von dem Ritter-
tum des Mittelalters? — und welches sehr schön ist, jetzt aber unvorteilhaft
für das Bestehen der Art.“ Jeder, der mit tiefem und weitem Blick sieht,
wird am Rittertum die Merkmale des Untergangs heut als das Wesentliche
sehen; er wird die ganze Bewegung erfassen, den Riesenprozess des Welt¬
geschehens, der neue Werte und neue Menschen aus den Fluten gehoben hat
und ihnen für eine gewisse Zeit die Kommandobrücke wie die Maschinenräume
ausliefert. Er wird die Aussichtslosigkeit im Kampf der Ritter gegen diese Mächte
zuerst erkennen und entweder Teilnahme bereit haben, wie Strindberg, oder
Hohn, wie ein Plebejer, oder Gleichmut, wie ein Geschichtsbetrachter, für die
Überbleibsel des alten Kriegeradels, „welcher jetzt vor dem neuen Nerven¬
oder Grossgehirn-Adel untergeht.“ So ähnlich sah auch Jules Lemaître die
Dinge, der als zart übliger Republikaner halb bedauernd, halb befriedigt ausruft:
les rois s'en vont. Kleiner ist es für einen tragischen Dramatiker, die gelegent-
lichen Unannehmlichkeiten mit tötlichem Ausgang vor allem wahrzunehmen,
welche die Ritter vereinzelt der heutigen Menschheit bereiten können; ein
Zustand, der mit dem grossen Ganzen der Entwicklung weit weniger zusammen-
hängt als mit der zufälligen Haltung einiger Regierungen. Unter diesem kleineren
Gesichtspunkte dürften Duelldramen entstehen. Immerhin auch sie können be¬
deutungsvoll werden und tiefgreifend, wenn zwei ganze Menschen einander
gegenübertreten, von denen der eine im Charakter für die Merkmale des
Rittertums Wurzeln bietet, der andre in seinem Wesen die Züge des modernen
Menschen begründet zeigt. „Freiwild“ von Arthur Schnitzler, diesem Dichter,
welcher auf andrem Gebiete manches letzte Wort gesagt und manche letzte
Empfindung geweckt hat, ist ganz zweifellos ein Duellstück. Es zeigt im
ersten Akt den Anlass zu einer Forderung, im zweiten die Ablehnung dieser
Forderung, im dritten die Folgen dieser Ablehnung. Hat er zwei ganze
Menschen hingestellt? Hat er zwei Welten klar werden lassen? Ist er, über
das zufällige, zeitliche Problem hinaus, zu ewigeren Dingen gelangt? Die
Antwort, fiat justitia et pereat mundus, heisst: nein.
Den reinen Kunstwert eines Problemstücks abzuschätzen ist leicht. Man
nimmt das Problem als gelöst an. Ein französisches Drama, siebziger Jahre,