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läufig verschoben worden, und man schreitet an ein inneres Anlehen, das,
wie es auch ausfallen möge, nur eine Verschlechterung der finanziellen Lage
Spaniens hervorbringen kann. Ob es gelingt oder nicht, in beiden Fällen
wird die Notenpresse in Anwendung gelangen. In der Türkei erwartet
man das finanzielle Heil von dem beabsichtigten Eintritt eines russischen
Vertreters in die Staatsschulden=Commission. Ob dadurch viel geleistet
werden wird, ist sehr zweifelhaft. Die von der dette publique verwalteten
Anlehen sind gegenwärtig nicht gefährdet. Nur im äußersten Nothfall wird
die Türkei die Rechte der europäischen Commission verletzen: und
wenn diese vorläufig noch weit entfernte Zwangslage eintreten sollte,
wird die Anwesenheit oder Abwesenheit eines russischen Vertreters in der
Commission wenig daran ändern. Eine Verletzung des Moharrem=Decretes
kann, wenn die Mächte wollen, auch ohne Russlands Eintritt zu einer diplo¬
matischen Action, eventuell zu einem Casus belli gemacht werden. Wenn
aber, wie wahrscheinlich, den Mächten die „Ruhe im Orient wichtiger als
die Interessen der Besitzer türkischer Werte sein sollte, so wird daran auch die
Nominierung eines russischen Deligierten nichts ändern. Eine wirkliche Sanierung
der für Finanzen ist nur durch eine Europäisierung der Verwaltung möglich,
und damit hat es wohl noch seine guten Wege. Der einzige mögliche, aber
unwahrscheinliche Erfolg des Eintrittes des russischen Delegierten könnte der
sein, dass eine neue Finanzgruppe zur Gewährung eines größeren Darlehens
an die Türkei veranlasst würde, da die Banque Ottomane Gruppe gegen¬
wärtig dazu unfähig ist, und dass die Pforte dadurch für die dringendsten
Verpflichtungen Geldmittel erhalten würde.
Kunst und Leben.
Premieren der Woche. Paris: Vaudeville „Le Partage“
von Albert Guinon. Athénée Comique Madame l'avocat“ von Depré¬
und Galipaux. Folies Dramatiques „Rivoli, von Burani, Musik von
Wormser. Théâtre Réaliste, „La Raleuse" von René Racot und Léo
Monthilda. — Berlin: Deutsches Theater, „Freiwild“ von Arthur
Schnitzler. Lessingtheater, „Die goldene Eva“ von Franz von Schönthan
und Franz Koppel=Ellfeld. Lübeck: Stadttheater, „Das höchste Gesetz" von
T. Szafranski.
Man schreibt uns aus Paris: Den ersten Erfolg der Saison hat das
Vaudeville mit dem modernen Drama: „Le Partage" zu verzeichnen. Sein
Autor heißt Albert Guinon, und hat sich seine ersten Sporen im Théâtre
libre verdient. Es ist wieder das alte Triangel: Gatte, Frau, Liebhaber,
aber die legitime Brutalität des ehelichen Lebens, das den Gatten mit seiner
Frau verbindet, die ungestüme Liebe, mit der diese am Dritten hängt, und
der Hass der Rivalen, das alles wird in einem Tone der tiefsten Mensch¬
lichkeit vorgebracht, und mit einer unerhörten Kühnheit wird das physische
Martyrium der Frau geschildert, die um ihres Kindes willen an der Seite
eines verhaften Gemahls zu bleiben sich verdammt. An diese Frage hat sich
vor Guinon kein Franzose gewagt, und es hat des hervorragenden Talents
der Réjane bedurft, um dem Publicum diese Frauengestalt aufzuzwingen,
welche für das moderne Drama Frankreichs von derselben Bedeutung bleiben
dürfte, wie es beispielsweise die Hedda Gabler für das nordische Drama
ist. — Es war billig, dass eine französische Bühne — das Nouvea
théâtre — sich zur Aufführung der beiden bezeichnendsten dramatisch
Werke Oscar Wildes: „La passante (Lady Windermere's fan)
„Salomé entschlossen hat. Der unglückliche Dichter hat jenseits des Co
eine große Gemeinde, die ihn liebt und bewundert, und wenn man von
Fronde gegen den brutalen Act, dem Wilde zum Opfer fiel, von der
phobie der freieren Gesellschaft Frankreichs und endlich von den
denen Snobismen, die ein künstlerisches Extrem und ein Scandal
Gefolge haben, absieht, so rechtfertigt die große und reine Anerken¬
man hier dem Werke Wildes zollt, noch immer die Aufführung seiner
Die beiden Schauspiele zeigen Wilde von zwei anscheinend verschie¬
ihrem Wesen aber grundverwandten Seiten. Die Fabel und
hrem
von „Passante bieten nichts Hervorragendes oder Neues, sie sind
leben¬
Wesen dem Schema Dumas fils-Sardou nachgebildet; das aber
er und
sache. Sie liefern eben bloß das Lattengerippe, an das der Sa¬
nänen
anarchistische Philosoph Wilde die Blender und Raketen seiner
ordnung
Geistespyrotechnik befestigt hat. Die Maxime: rücksichtslose Un
Lebens¬
aller Gebote der Gesellschaft und der Sitten unter das Gesetz
der wir
genusses bildet den Salpeter dieser glänzenden Feuerwerkskunst,
in
die besten Effecte des „Portrait of Dorian Gray und der
wiedererkennen. Während in der modernen „Passante der Grundinstinct
des Genießenwollens alle Fesseln der Convention mit scharfer Dialektik zu
sprengen sucht, bricht er in „Salomé“ in seiner zügellosen Urform, dem
thierischen Brunstschrei der Begierde hervor. Mit meisterlichem Raffinement
hat es Wilde verstanden, die entsetzliche Gestalt der Tänzerin ums Haupt
des Täufers in den kostbaren Brocat einer farbenreichen Sprache zu hüllen.
Zwar ist der Einfluss Flauberts, ja vielleicht noch mehr der Gustave
Moreaus unverkennbar, aber das doch nur in den unendlich sorgfältig heraus¬
gearbeiteten Details; in der paradoxalen Hauptfigur offenbart sich die ganze
A. H.
Originalität des extravaganten Dichters.
Man schreibt uns aus Berlin: Das Deutsche Theater
brachte uns Arthur Schnitzlers vierartiges Schauspiel „Freiwild“.
Die äußere Handlung ist eine Duellgeschichte: ein Civilist hat einen Officier
geohrfeigt, der Officier fordert ihn, der Civilist verweigert die Genugthuung,
der Officier schießt ihn über den Haufen. Man kann zum Glück nicht sagen,
dass die Geschichte alltäglich ist, aber der Verlauf ist so selbstverständlich,
dass all die Duellgegner, die der Tendenz des Stückes Beifall klatschten,
schon im zweiten Act den ferneren Verlauf vorauswussten und voraussagten.
Von innerer Handlung ist nicht die Rede, da nicht Menschen, sondern Typen
sich auf der Bühne bewegen. Das Interessanteste an dem Stück war sein
Erfolg; ich meine nicht nur den lauten Beifall, den kann man bei einem
gewissen Publicum leicht haben, wenn's gegen Officiere und Duell geht,
besonders aber jetzt, wo der „Fall Brüsewitz" die Gemüther erregt und die
Frage actuell ist. Auch wer, wie ich, diese Natualität peinlich empfand,
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Zeit.
läufig verschoben worden, und man schreitet an ein inneres Anlehen, das,
wie es auch ausfallen möge, nur eine Verschlechterung der finanziellen Lage
Spaniens hervorbringen kann. Ob es gelingt oder nicht, in beiden Fällen
wird die Notenpresse in Anwendung gelangen. In der Türkei erwartet
man das finanzielle Heil von dem beabsichtigten Eintritt eines russischen
Vertreters in die Staatsschulden=Commission. Ob dadurch viel geleistet
werden wird, ist sehr zweifelhaft. Die von der dette publique verwalteten
Anlehen sind gegenwärtig nicht gefährdet. Nur im äußersten Nothfall wird
die Türkei die Rechte der europäischen Commission verletzen: und
wenn diese vorläufig noch weit entfernte Zwangslage eintreten sollte,
wird die Anwesenheit oder Abwesenheit eines russischen Vertreters in der
Commission wenig daran ändern. Eine Verletzung des Moharrem=Decretes
kann, wenn die Mächte wollen, auch ohne Russlands Eintritt zu einer diplo¬
matischen Action, eventuell zu einem Casus belli gemacht werden. Wenn
aber, wie wahrscheinlich, den Mächten die „Ruhe im Orient wichtiger als
die Interessen der Besitzer türkischer Werte sein sollte, so wird daran auch die
Nominierung eines russischen Deligierten nichts ändern. Eine wirkliche Sanierung
der für Finanzen ist nur durch eine Europäisierung der Verwaltung möglich,
und damit hat es wohl noch seine guten Wege. Der einzige mögliche, aber
unwahrscheinliche Erfolg des Eintrittes des russischen Delegierten könnte der
sein, dass eine neue Finanzgruppe zur Gewährung eines größeren Darlehens
an die Türkei veranlasst würde, da die Banque Ottomane Gruppe gegen¬
wärtig dazu unfähig ist, und dass die Pforte dadurch für die dringendsten
Verpflichtungen Geldmittel erhalten würde.
Kunst und Leben.
Premieren der Woche. Paris: Vaudeville „Le Partage“
von Albert Guinon. Athénée Comique Madame l'avocat“ von Depré¬
und Galipaux. Folies Dramatiques „Rivoli, von Burani, Musik von
Wormser. Théâtre Réaliste, „La Raleuse" von René Racot und Léo
Monthilda. — Berlin: Deutsches Theater, „Freiwild“ von Arthur
Schnitzler. Lessingtheater, „Die goldene Eva“ von Franz von Schönthan
und Franz Koppel=Ellfeld. Lübeck: Stadttheater, „Das höchste Gesetz" von
T. Szafranski.
Man schreibt uns aus Paris: Den ersten Erfolg der Saison hat das
Vaudeville mit dem modernen Drama: „Le Partage" zu verzeichnen. Sein
Autor heißt Albert Guinon, und hat sich seine ersten Sporen im Théâtre
libre verdient. Es ist wieder das alte Triangel: Gatte, Frau, Liebhaber,
aber die legitime Brutalität des ehelichen Lebens, das den Gatten mit seiner
Frau verbindet, die ungestüme Liebe, mit der diese am Dritten hängt, und
der Hass der Rivalen, das alles wird in einem Tone der tiefsten Mensch¬
lichkeit vorgebracht, und mit einer unerhörten Kühnheit wird das physische
Martyrium der Frau geschildert, die um ihres Kindes willen an der Seite
eines verhaften Gemahls zu bleiben sich verdammt. An diese Frage hat sich
vor Guinon kein Franzose gewagt, und es hat des hervorragenden Talents
der Réjane bedurft, um dem Publicum diese Frauengestalt aufzuzwingen,
welche für das moderne Drama Frankreichs von derselben Bedeutung bleiben
dürfte, wie es beispielsweise die Hedda Gabler für das nordische Drama
ist. — Es war billig, dass eine französische Bühne — das Nouvea
théâtre — sich zur Aufführung der beiden bezeichnendsten dramatisch
Werke Oscar Wildes: „La passante (Lady Windermere's fan)
„Salomé entschlossen hat. Der unglückliche Dichter hat jenseits des Co
eine große Gemeinde, die ihn liebt und bewundert, und wenn man von
Fronde gegen den brutalen Act, dem Wilde zum Opfer fiel, von der
phobie der freieren Gesellschaft Frankreichs und endlich von den
denen Snobismen, die ein künstlerisches Extrem und ein Scandal
Gefolge haben, absieht, so rechtfertigt die große und reine Anerken¬
man hier dem Werke Wildes zollt, noch immer die Aufführung seiner
Die beiden Schauspiele zeigen Wilde von zwei anscheinend verschie¬
ihrem Wesen aber grundverwandten Seiten. Die Fabel und
hrem
von „Passante bieten nichts Hervorragendes oder Neues, sie sind
leben¬
Wesen dem Schema Dumas fils-Sardou nachgebildet; das aber
er und
sache. Sie liefern eben bloß das Lattengerippe, an das der Sa¬
nänen
anarchistische Philosoph Wilde die Blender und Raketen seiner
ordnung
Geistespyrotechnik befestigt hat. Die Maxime: rücksichtslose Un
Lebens¬
aller Gebote der Gesellschaft und der Sitten unter das Gesetz
der wir
genusses bildet den Salpeter dieser glänzenden Feuerwerkskunst,
in
die besten Effecte des „Portrait of Dorian Gray und der
wiedererkennen. Während in der modernen „Passante der Grundinstinct
des Genießenwollens alle Fesseln der Convention mit scharfer Dialektik zu
sprengen sucht, bricht er in „Salomé“ in seiner zügellosen Urform, dem
thierischen Brunstschrei der Begierde hervor. Mit meisterlichem Raffinement
hat es Wilde verstanden, die entsetzliche Gestalt der Tänzerin ums Haupt
des Täufers in den kostbaren Brocat einer farbenreichen Sprache zu hüllen.
Zwar ist der Einfluss Flauberts, ja vielleicht noch mehr der Gustave
Moreaus unverkennbar, aber das doch nur in den unendlich sorgfältig heraus¬
gearbeiteten Details; in der paradoxalen Hauptfigur offenbart sich die ganze
A. H.
Originalität des extravaganten Dichters.
Man schreibt uns aus Berlin: Das Deutsche Theater
brachte uns Arthur Schnitzlers vierartiges Schauspiel „Freiwild“.
Die äußere Handlung ist eine Duellgeschichte: ein Civilist hat einen Officier
geohrfeigt, der Officier fordert ihn, der Civilist verweigert die Genugthuung,
der Officier schießt ihn über den Haufen. Man kann zum Glück nicht sagen,
dass die Geschichte alltäglich ist, aber der Verlauf ist so selbstverständlich,
dass all die Duellgegner, die der Tendenz des Stückes Beifall klatschten,
schon im zweiten Act den ferneren Verlauf vorauswussten und voraussagten.
Von innerer Handlung ist nicht die Rede, da nicht Menschen, sondern Typen
sich auf der Bühne bewegen. Das Interessanteste an dem Stück war sein
Erfolg; ich meine nicht nur den lauten Beifall, den kann man bei einem
gewissen Publicum leicht haben, wenn's gegen Officiere und Duell geht,
besonders aber jetzt, wo der „Fall Brüsewitz" die Gemüther erregt und die
Frage actuell ist. Auch wer, wie ich, diese Natualität peinlich empfand,