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8. Freiwild
682
30. April. DEUTSCHE LITTERATURZEITUNG 1898. Nr. 17.
681
reicher durchgebildet als Gerhart Hauptmanns
machen; leider lassen nur viele der Autotypieen
ungefähr gleichzeitig entstandener Typus Johannes
gerade das nicht erkennen, worauf es ankommt,
Vockerat in den „Einsamen Menschen“. Anatol
Buch III endlich ist der Deutung und der
ist der junge Wiener aus reichem Hause, der
Grundlage des Verständnisses der Bilder gewid¬
angeblich studirt, in Wahrheit aber bummelt und
met und findet den Schlüssel zur Lösung aller
herumliebelt und über das Verhältniss zu den
Räthsel in der ausschliesslichen Bestimmung aller
Frauen vor Allem ganz eigenthümliche Grund¬
bemalten unteritalischen Vasen für den Todten¬
sätze offenbart. Er selbst bezeichnet sich als
kult. Vermuthlich wird der vom Vf. so ge¬
„leichtsinnigen Melancholiker. Sein nüchtern
schmähte Skeptizismus der deutschen Wissen¬
verständiger Freund Max (der in allen Einaktern
schaft auch vor den acht für diese Auffassung
gleichzeitig mit ihm auftritt, wirft ihm vor:
vorgebrachten Hauptgründen nicht die Segel
„Deine Gegenwart schleppt immer eine ganze
streichen. Die Beziehungen zum Todtenkult wer¬
schwere Last von unverarbeiteter Vergangenheit
den nicht etwa von italischen religiösen Vor¬
mit sich ... Das Gewesene wird für Dich keine
stellungen aus gewonnen, sondern haben aus¬
einfache starre Thatsache, indem es sich von den
schliesslich griechische Begriffe und deren wie¬
Stimmungen loslöst, in denen Du es erfahren —
der in griechischem Sinn durchgeführte Umdeu¬
nein, die Stimmungen bleiben schwer darüber
tungen zur Grundlage, während doch Stämme,
liegen, sie werden nur blässer und welken und
die selbst im Formalen der Kunst so viel Selb¬
sterben ab.“ Anatol ist also ein Decadent.
ständigkeit zeigen, an ihren nationalen Vorstel¬
Wahrheit, Wirklichkeit, Adel liegen nur im
lungen von der Götterwelt und vom Jenseits
Gefühl, das Gefühl heiligt auch die Sünderin.
erst recht festgehalten haben werden: hier kann
Im Grunde liebt Anatol jedoch mehr die Liebe,
man P. den Vorwurf zurückgeben, den er der
als die Geliebte; er liebt sein Traumbild von
deutschen Forschung macht, das italische Element
ihr und ist empört, wenn es ihm zerstört wird.
nicht genügend zu berücksichtigen. Vieles, wie
Er ist ein naiver Egoist und ein Schwächling,
z. B. die Phlyakenvasen, fügt sich nur sehr künst¬
der seine eigenen Grundsätze nicht durchzuführen
lich und auf Umwegen der Beziehung zum Todten¬
vermag. Darum wachsen ihm die Verhältnisse
kult, und die für seine Theorie unbequemen
mit den Frauen, in die er sich so gern einlässt,
Fischteller scheint P. überhaupt zu vergessen;
über den Kopf. Beim Anfang einer Liebschaft
sie allein schon könnten, wenn es eines Beweises
denkt er schon ans Auseinandergehen; er be¬
bedürfte, beweisen, dass auch in Süditalien wie
dingt sich's aus, stets selbst wahr sein zu dürfen
überall die zur Grabausstattung verwendeten
und von der Geliebten immer nur die Wahrheit
Gefässe im Wesentlichen nur Wiederholung der
zu hören. Aber wenn es darauf ankommt, ein
zur Ausstattung der Wohnung der Lebendigen
Ende zu machen, ist er weder das eine zu thun,
dienenden sind, und dass man eine mühsam dem
noch das andere zu leiden im Stande. Dieser
Ausland abgelernte Technik in ihrer Anwendung
weiche, liebenswürdige Mensch kann sogar recht
nicht eigensinnig in die Gräber verbannte, son¬
roh und verletzend werden, wenn er sich von
dern zunächst zur Erheiterung des eigenen Da
einer überdrüssig gewordenen Geliebten befreien
seins benutzte.
will. Das also ist Anatol. In den sieben
H. Winnefeld.
Berlin.
Einaktern stellt ihn der Dichter in sieben ver¬
schiedenen Liebesverhältnissen dar, und so wenig
Schnitzler die Frauen idealisirt, so tont doch aus
Moderne Dichtung.
seinem Buch das innigste Lob des weiblichen
Arthur Schnitzler, Anatol. 3. Aufl. Berlin, S.
Herzens. Es ist eine Anklage der herrschenden
Fischer, 1898. Vu 138 S. 8°. M. 2,50.
nicht der geschriebenen, sondern der faktisch
Moral der jungen Männer im Ver¬
Derselbe, Freiwild. Schauspiel in 3 Akten. Ebenda,
geübten
1898. 158 S. 80. M. 2.
kehr mit dem weiblichen Geschlecht. Wohl ist
das reiche Weib von heute, die „Mondaine,
Die sieben Einakter, welche das Buch „Ana¬
nicht mehr werth als Anatol; sie sündigt nur aus
tol“ vereinigt, sind eine der schönsten Blüthen
Feigheit nicht; sie beneidet das süsse Mädel“
der modernen deutschen Poesie überhaupt und
das sich bedenkenlos seiner Neigung hingeben
der Jung=Wiener Dichtung im Besonderen, der
darf. Aber jener Hochmuth der Männer, die
erste Wurf eines begabten Dichters, überspru¬
vom Weibe mehr sittliche Energie als von sich
delnd von dichterischen Ideen, reich an werth¬
selbst verlangen, und das Weib verachten zu
vollen Keimen, die erst in der Folge zur völligen
dürfen glauben, das sie selbst zu Falle brachten,
Reife gedeihen konnten. Anatol, der gemeinsame
empört den Dichter. Er selbst steht jenseits
theils liebenswürdige, theils satirische Held dieser
aller Geschlechtsmoral.
kleinen Lustspiele, deren überaus anmuthige Form
Die erste Auflage des „Anatole erschien 1892.
den Vergleich mit Mussets Proverbes sehr wohl
Schnitzler war damals dreissig Jahre alt und
vertragen kann Anatol ist ein Typus der
schon längere Zeit als praktischer Arzt thätig.
Vertreter einer ganzen Generation, und noch
8. Freiwild
682
30. April. DEUTSCHE LITTERATURZEITUNG 1898. Nr. 17.
681
reicher durchgebildet als Gerhart Hauptmanns
machen; leider lassen nur viele der Autotypieen
ungefähr gleichzeitig entstandener Typus Johannes
gerade das nicht erkennen, worauf es ankommt,
Vockerat in den „Einsamen Menschen“. Anatol
Buch III endlich ist der Deutung und der
ist der junge Wiener aus reichem Hause, der
Grundlage des Verständnisses der Bilder gewid¬
angeblich studirt, in Wahrheit aber bummelt und
met und findet den Schlüssel zur Lösung aller
herumliebelt und über das Verhältniss zu den
Räthsel in der ausschliesslichen Bestimmung aller
Frauen vor Allem ganz eigenthümliche Grund¬
bemalten unteritalischen Vasen für den Todten¬
sätze offenbart. Er selbst bezeichnet sich als
kult. Vermuthlich wird der vom Vf. so ge¬
„leichtsinnigen Melancholiker. Sein nüchtern
schmähte Skeptizismus der deutschen Wissen¬
verständiger Freund Max (der in allen Einaktern
schaft auch vor den acht für diese Auffassung
gleichzeitig mit ihm auftritt, wirft ihm vor:
vorgebrachten Hauptgründen nicht die Segel
„Deine Gegenwart schleppt immer eine ganze
streichen. Die Beziehungen zum Todtenkult wer¬
schwere Last von unverarbeiteter Vergangenheit
den nicht etwa von italischen religiösen Vor¬
mit sich ... Das Gewesene wird für Dich keine
stellungen aus gewonnen, sondern haben aus¬
einfache starre Thatsache, indem es sich von den
schliesslich griechische Begriffe und deren wie¬
Stimmungen loslöst, in denen Du es erfahren —
der in griechischem Sinn durchgeführte Umdeu¬
nein, die Stimmungen bleiben schwer darüber
tungen zur Grundlage, während doch Stämme,
liegen, sie werden nur blässer und welken und
die selbst im Formalen der Kunst so viel Selb¬
sterben ab.“ Anatol ist also ein Decadent.
ständigkeit zeigen, an ihren nationalen Vorstel¬
Wahrheit, Wirklichkeit, Adel liegen nur im
lungen von der Götterwelt und vom Jenseits
Gefühl, das Gefühl heiligt auch die Sünderin.
erst recht festgehalten haben werden: hier kann
Im Grunde liebt Anatol jedoch mehr die Liebe,
man P. den Vorwurf zurückgeben, den er der
als die Geliebte; er liebt sein Traumbild von
deutschen Forschung macht, das italische Element
ihr und ist empört, wenn es ihm zerstört wird.
nicht genügend zu berücksichtigen. Vieles, wie
Er ist ein naiver Egoist und ein Schwächling,
z. B. die Phlyakenvasen, fügt sich nur sehr künst¬
der seine eigenen Grundsätze nicht durchzuführen
lich und auf Umwegen der Beziehung zum Todten¬
vermag. Darum wachsen ihm die Verhältnisse
kult, und die für seine Theorie unbequemen
mit den Frauen, in die er sich so gern einlässt,
Fischteller scheint P. überhaupt zu vergessen;
über den Kopf. Beim Anfang einer Liebschaft
sie allein schon könnten, wenn es eines Beweises
denkt er schon ans Auseinandergehen; er be¬
bedürfte, beweisen, dass auch in Süditalien wie
dingt sich's aus, stets selbst wahr sein zu dürfen
überall die zur Grabausstattung verwendeten
und von der Geliebten immer nur die Wahrheit
Gefässe im Wesentlichen nur Wiederholung der
zu hören. Aber wenn es darauf ankommt, ein
zur Ausstattung der Wohnung der Lebendigen
Ende zu machen, ist er weder das eine zu thun,
dienenden sind, und dass man eine mühsam dem
noch das andere zu leiden im Stande. Dieser
Ausland abgelernte Technik in ihrer Anwendung
weiche, liebenswürdige Mensch kann sogar recht
nicht eigensinnig in die Gräber verbannte, son¬
roh und verletzend werden, wenn er sich von
dern zunächst zur Erheiterung des eigenen Da
einer überdrüssig gewordenen Geliebten befreien
seins benutzte.
will. Das also ist Anatol. In den sieben
H. Winnefeld.
Berlin.
Einaktern stellt ihn der Dichter in sieben ver¬
schiedenen Liebesverhältnissen dar, und so wenig
Schnitzler die Frauen idealisirt, so tont doch aus
Moderne Dichtung.
seinem Buch das innigste Lob des weiblichen
Arthur Schnitzler, Anatol. 3. Aufl. Berlin, S.
Herzens. Es ist eine Anklage der herrschenden
Fischer, 1898. Vu 138 S. 8°. M. 2,50.
nicht der geschriebenen, sondern der faktisch
Moral der jungen Männer im Ver¬
Derselbe, Freiwild. Schauspiel in 3 Akten. Ebenda,
geübten
1898. 158 S. 80. M. 2.
kehr mit dem weiblichen Geschlecht. Wohl ist
das reiche Weib von heute, die „Mondaine,
Die sieben Einakter, welche das Buch „Ana¬
nicht mehr werth als Anatol; sie sündigt nur aus
tol“ vereinigt, sind eine der schönsten Blüthen
Feigheit nicht; sie beneidet das süsse Mädel“
der modernen deutschen Poesie überhaupt und
das sich bedenkenlos seiner Neigung hingeben
der Jung=Wiener Dichtung im Besonderen, der
darf. Aber jener Hochmuth der Männer, die
erste Wurf eines begabten Dichters, überspru¬
vom Weibe mehr sittliche Energie als von sich
delnd von dichterischen Ideen, reich an werth¬
selbst verlangen, und das Weib verachten zu
vollen Keimen, die erst in der Folge zur völligen
dürfen glauben, das sie selbst zu Falle brachten,
Reife gedeihen konnten. Anatol, der gemeinsame
empört den Dichter. Er selbst steht jenseits
theils liebenswürdige, theils satirische Held dieser
aller Geschlechtsmoral.
kleinen Lustspiele, deren überaus anmuthige Form
Die erste Auflage des „Anatole erschien 1892.
den Vergleich mit Mussets Proverbes sehr wohl
Schnitzler war damals dreissig Jahre alt und
vertragen kann Anatol ist ein Typus der
schon längere Zeit als praktischer Arzt thätig.
Vertreter einer ganzen Generation, und noch