II, Theaterstücke 8, Freiwild. Schauspiel in 3 Akten, Seite 267


wickelt der Autor einem Problem zuliebe, das er auf einen Ideal
menschen gepfropft hat, eine verwunderlich abirrende Handlung, in die
man wie in ein psychologisches Kaleidoskop blickt. Dieser Maler Paul
Rönning, der die gekränkte Ehre der jungen, von ihm geliebten Schau¬
spielerin mit der Faust an dem Beleidiger rächt, überrascht uns im
zweiten Acte durch seine hervorragenden Charaktereigenschaften, er ist
ein Einsamer, ein Schwimmer gegen den Strom, ein höchst un¬
typischer Mensch, der sich von allen conventionellen Satisfactions¬
begriffen frei weiß und es so dem Dichter ermöglicht, den gewollten
Conflict heraufzubeschwören. Dieser Conflict, ein ganz persönlicher,
auf seinen Leib zugeschnittener Conflict, heißt, von allen Neben¬
deutungen losgelöst: „Ich, Paul Rönning, habe den Beruf, einen
Ehrverletzer zu ohrfeigen, Jener aber hat kein Recht, mich für diese
Privatjustiz zur Rechenschaft zu ziehen“. Der so sonderlich Geartete
vereinigt also in sich zufolge höchsteigener Einsetzung die unantastbare
Obliegenheit eines Staatsanwaltes mit den unverantwortlichen Exe¬
cutionsbefugnissen eines Büttels. Nun steht es ja in dem Belieben des
freischaffenden Dichters, die von der Convention abweichende These auf
zustellen, daß es Männer, oder sagen wir wenigstens einen Mann
und zwar diesen Paul Rönning gibt, der in der ehrlichen Aufwallung
seines Grimmes so handelt, wie wir es im ersten Acte sehen; der
dann weiter den Muth hat, eine Forderung abzulehnen, auf die Ge¬
fahr hin, für einen Feigling gehalten zu werden; der die Festigkeit
besitzt, ein Scheinduell von sich zu weisen, wodurch der Ehrenmake
von seinem Gegner genommen würde. Ja, der noch die Unbefangen¬
heit des Wesens findet, in dieser Situation mit der Geliebten sofort
abreisen zu wollen, aber plötzlich vom Eigensinn erfaßt, dies nicht thut,
weil er erfahren hat, daß der Gezüchtigte mit der Waffe im Sack ihn
wo immer zur Rechenschaft ziehen wolle, also aus trotzigem Muth oder
muthigem Trotz lieber in den Schuß läuft, um sich sein Recht auf
Ablehnung des Zweikampfes zu erzwingen — all das ist dem Belieben
des Dichters, der psychologisch rechtfertigt, anheimgegeben. Aber diesen
ganzen innern Menschen ist uns Schnitzler schuldig geblieben. Es
genügt nicht zu zeigen, Paul Rönning ist so, wie er ist: ein an¬
scheinend Tapferer, der nebst den schlagenden Argumenten des ersten
Actes im dialectischen zweiten Aufzuge fein erwogene und stark wirkende
Worte findet, um sein momentanes Vorgehen zu begründen; Worte,
die in uns wiederhallen und denen wir Beifall spenden, weil sie aus
der allgemeinen Stimmung herausgesprochen sind — nein, wir wollen
mehr wissen, wir wollen den Mann auch verstehen, wir wollen er¬
fahren, warum er so sprechen muß, damit sich sein Schicksal erfülle.
Wir möchten in diese Seele tief hineingeblickt haben, um sie
lieben zu können, das organisch und einheitlich Gewachsene dieses
Starken möchten wir bis zu den feinen, grundsaugenden Wurzeln,
wenn auch nur andeutungsweise, erblicken, damit unser gerne bereites
Gefühl Stellung zu ihm fasse. Dieser Paul Rönning aber ist bloß
die scharf umrissene Contour eines Menschen, mit dem weder unser
Verstand noch unsere Empfindung etwas anfangen können, und wenn
sein zweistündiges unmotivirtes Bühnenleben vorüber gezogen ist, wo
er statt zu wachsen, immer kleiner wurde, wo er, statt sich uns zu
nähern, sich immer weiter von uns entfernte, betrachten wir den Schuß,
der ihn tödtet, als Erlösung von unserer Ermüdung, ohne Beimischung
von Theilnahme oder Mitleid, wie wenn ein Beliebiger aus dem Chor
der Müssiggänger des Badeortes mit etwas Eclat abgegangen wäre.
„Freiwild“ ist eine dramatische Frucht mit taubem Kern. Der hat
stellenweise blos ein prickelndes Fleisch angesetzt, man kann nur epi¬
sodisch davon genießen. Das Milieu, aus dem die Vorgänge sich ent¬
wickeln, die Nebenfiguren, welche die Handlung hemmen und schieben,
haben von einer sicher hinsetzenden Hand Farbe und Leben erhalten
Es steht fest, daß Schnitzler mit eigenen Augen sieht, mit eigenem
subtilen Gehör die Stimmen des Lebens vernimmt. Und dann spielt
er seine Melodien auf eigener Geige. Der Ton ist vielleicht nicht groß
und zwingend, aber er ist echt. Echt ist im „Freiwild“ die breite
Episode der Schmiere, ihre Lebewesen und Schmarotzer. Eine Fülle
der scharfäugigsten Beobachtung ist hier mit Kunstverstand angebracht;
hier weiß der Dichter aus den kleinen Erscheinungen das Tiefste heraus¬
zuschürfen und vollklingend an's Licht zu locken. Allein das alles ent¬
schädigt nicht für den erkältenden und abweisenden Eindruck, den man
aus „Freiwild“ mit wegträgt und über den sich gar Viele nicht Rechen¬
schaft zu geben verstehen, weil in der Bühnenperspective das Aeußer¬
liche der Handlung ja doch fesselt. Ueber diese hinweg, in das Treibende
des Spieles schauend, erkennt man, wenn man sich frägt, was wollte
der Dichter, was soll das Stück sagen — und bei Schnitzler, der ja
immer etwas zu sagen hat, ist diese Frage wohl am Platze — daß ein
Menschenschicksal und eine Tendenz in künstlerischem Ausklang ein
Ganzes zu bilden bestimmt waren. In dem katten Destillat „Freiwild“
bleiben beide Stoffe gesondert. Das Schicksal bewegt uns nicht; gegen
den Duellzwang, wie er da vorgetragen wird, empfinden wir keine
Entrüstung. Den Beifall, den Erfolg, hat der klug nützende Drama¬
tiker, der starke Scenen vorzubereiten und zu führen versteht, der
kundige Dialogschleifer an das Stück gefesselt. Die überzeugende Satyre,
die Schnitzler auf die Nebenhandlung anwendet, wäre vielleicht, auf
die Hauptaction übertragen, künstlerisch und ethisch ersprießlicher ge¬
worden. Sociales Unrecht wirkt unendlich im Spiegel des Ernstes
und der Wahrheit. Sociale Thorheiten, und seien sie selbst so blut¬
lassend wie das Duell, flüchten eher vor der Geißel der Satyre.
Von der Darstellung ist in Bezug auf die Herren, mit wenigen Ausnahmen,
das Beste zu sagen. Herr Klein hat die ganze Ruhe und Abgeklärt¬
heit seines Spieles, sowie die starken Accente seiner eindringlichen
Sprechweise darauf gewendet, den Rönning glaubhaft zu gestalten.
Herr Reusch als Lieutenant Karinski hat überzeugt. Herr Korff
ist der liebenswürdigste Schauspieler, der jetzt in Wien auf den Brettern
steht, und nebstbei eine volle Natur. Jeder Rolle, die er spielt, drückt
er den Stempel der Echtheit auf, so auch hier, dem Poldi Grehlinger, dem
dümmelnden, aber auf dem Duellcoder wie Shylok bestehenden Mode¬
narren. Herr Tewele, die komische Stütze, findet jetzt in der neuen
Blüthe dieser Bühne Rollen, die seinem Wesen entsprechen, so daß er
Behagen verbreitet. Bedauerlich ist, daß das Carl-Theater nur gute
Soubretten besitzt. Es könnte auch eine gute moderne Schauspielerin
vertragen. Ein weiblicher Korff wäre ihm dringend nothwendig.
Otto Fuchs.