II, Theaterstücke 8, Freiwild. Schauspiel in 3 Akten, Seite 299

8. Freiwil
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heiter.
(Schauspiel.) Eine Novität von Artur Schnitz¬
ser und eine Reprise nach Anzengruber konsu¬
erten in der abgelaufenen Woche das Interesse der
Schauspielfreunde. Schnitzlers „Freiwild" gehört
sicht zu den besseren Werken des Dichters. Es bleibt
in der Oberfläche haften, ohne in eine Vertiefung der
geschilderten Menschen und Situationen einzugehen.
die willkürlich aneinander gereihten Szenen können
nicht wohl als dramatische Handlung bezeichnet wer¬
en, denn sie entwickeln sich nicht naturgemäß, sondern
im Sinne jenes Zufalls, der entscheidend in unsrem
analen Leben, nicht aber in der Kunst sein darf. Unter
oblut= und charakterlosen Gestalten, wie sie Schnitzler
diesmal vorführt, wird es auch selten eine organische
Verkettung der Geschehnisse geben. Mag der Natu¬
alismus immerhin überwunden sein, eine seiner Be¬
dingungen ist geblieben und ohne sie wird die Bühne
zukünftig nicht bestehen: Die Pflicht des Dramatikers,
wirkliche Menschen darzustellen. Schnitzler griff in sei¬
dem vorliegenden Schauspiel auf die französische Phrase
zurück und begab sich damit des Anspruchs, ernst ge¬
kommen zu werden. Seine Tiraden für und gegen
das Duell hat man überdies schon hundertmal und
oft genug besser gehört. Wirkliches Leben pulsiert
nur in einigen Nebenfiguren, die aber nichts mit den
setzten Absichten des Verfassers zu tun haben. „Frei¬
ild" gehört zu jenen Schauspielen, denen erst die
österreichische Zensur eine flüchtige Scheinexistenz ver¬
liehen hat. Auch die Aufführung hat teilweise versagt.
Herr Gerhard nahm den Oberleutnant Karinski,
abgesehen davon, daß er ihn ein in unsren Offiziers¬
kreisen unmögliches Polnisch=Deutsch sprechen ließ, von
Haus aus zu tragisch, so daß er keine Steigerung er¬
zielte, Frl. von Küstenfeld spielte die „gschnap¬
pige Peperl Fischer mit den Alliren einer naiven
Unschuld, Frl. Sikora gab sich selbst, was diesmal
vielleicht am Platze war, Herrn Hauser fehlte das
Geckenhafte, Herr Schön war mir als Arzt zu kon¬
ventionell, und die Herren Jules und Groß hätten
ihre Rollen tauschen sollen. Nur Herr Wirth bot dem
Publikum als Paul Rönning mehr, als ihm der Dich¬
ter zur Verfügung gestellt hatte. Treffsicher und ver¬
läßlich erwiesen sich auch die Herren Schroth und
Beraun. — Unter stürmischem Beifall und vor dicht
besetztem Hause ging gestern abend im Theater am
Franzensplatz „Stahl und Eisen" in Szene, ein
Volksstück, das Anzengruber nach seiner eigenen
im Jahre 1881 erschienenen Novelle „Der Einsam
1887 fertiggestellt hat. Man merkt dem Schauspiel,
das zum großen Teile aus Erzählungen und Berichten
besteht, die novellistische Herkunft an. Nicht der Ein¬
sam, sondern sein natürlicher Vater, der Herr Bürger¬
meister ist hier der Held der Geschichte. Seine ernst¬
gemeinte Absicht, Ordnung in die Gemeinde zu brin¬
gen, während er doch im eigenen Hause keine Ordnung
zu halten weiß, entbehrt der Tragik nicht. Herr Groß,
dem gestern die Aufgabe zugefallen war, diesen Bürger¬
meister darzustellen, hat sich auch bis zur Schlußszene
streng an die Linien eines unverfälschten Bauern ge¬
halten, aber in dieser Schlußszene gebärdete er sich,
freilich wohl ganz im verfehlten Sinne des Dichters,
wie sich ein wirklicher Bauer an der Leiche seines ihm
unbekannten unehelichen Sohnes nie gebärden würde.
Ungleich wahrscheinlicher verkörperte Jules die Ge¬
stalt des Einsamen, obwohl wunderlicherweise gerade
diese Gestalt, der Familie der Wurzelsepp entnommen,
die unwahrscheinlichere ist. Die Redseligkeit des Men¬
schenfeindes und Einsiedlers unmittelbar bevor er
freundliche Gendarmen grundlos niederschießt, ist
heute, da Ludwig Thoma Bauern zeichnet, nicht mehr
schmackhaft. Es bedarf der Kunst eines bedeutenden
Schauspielers, um auch noch in dieser Situation Bei¬
fall zu ernten. Den bessern Teil seiner Lebensweisheit
hat Anzengruber diesmal nebenher gestreut. Es wim¬
melt in diesem Schauspiel, das sonst nicht an die
Hauptwerke unseres Volksklassikers heranreicht, von
prächtigen Gestalten aus dem Bauernstand, die auch
beinahe durchwegs gut besetzt waren. Ich nenne nur
Lippert (Pfarrer), Karban (Zirl), Moro¬
cutti (Seldinger), Gerhardt (Gendarm Hahn),
Haid (Hausierer) und Frl. Martinelli, die Rot¬
kopfete. Auch Herrn Kretschmer ließ man ge¬
stern seiner liebenswürdigen Heiterkeit wegen gelten,
obwohl man sich den Schneider=Tonerl anders gedacht
haben mag. Eine scharf umrissene Figur von großer
plastischer Wirkung schuf Frl. Schaffer (Pauli);
schade, daß sie beinahe unverständlich war und daß
sie Salonkleider trug. Die Vorstellung, von Herrn
Jules in Szene gesetzt, war überhaupt von bester
Stimmung getragen. Man hätte aber die unverkenn¬
baren Längen des Dialogs pietätlos zusammenstreichen
sollen.