II, Theaterstücke 8, Freiwild. Schauspiel in 3 Akten, Seite 362

8.
wild
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wicklung nehmen könne. Auch der Weg hiezu
dürfte ihm schon deutlich vorschweben. Die ernsten
Politiker werden ihm ihre Hilfe nicht versagen,
wenn sie auch, insbesondere die fortschrittlich
gesinnten unter ihnen, darauf achten müssen,
daß er hiebei nicht allzu „selbständige Ent¬
schließungen" fasse. Die Bahn ist frei, nun liegt
es in erster Linie an dem Führer und es gilt
auch keine Seit zu verlieren.
Die Wahlen in Ungarn haben ein über¬
raschendes Resultat gehabt: Graf Tiszas Ge¬
waltstreich hat nicht nur ihn selbst, sondern
auch seine Partei getroffen und ihre politische
Stellung vernichtet. Die liberale Partei, die seit
1867 an der Regierung war, erlitt eine furchtbare
Niederlage und Kossuths Anhänger triumphieren,
denn sie haben über alle Erwartungen viel
gewonnen und zählen mehr Abgeordnete als
die Liberalen. Die Folgen dieser Wahl sind
heute noch nicht abzusehen, aber es unterliegt
keinem Zweifel, daß der 26. Jänner 1905 ein
historischer Tag sein wird, nicht nur für Ungarn,
sondern auch für die Monarchie. Wohl ist es
sehr fraglich, ob man das Wahlresultat als den
Ausdruck des Willens der Nation bezeichnen darf,
denn man weiß, wie beschränkt das ungarische
Wahlrecht ist. Anderseits ist es aber gerade in
Ungarn noch nicht dagewesen, daß eine Regierung
nicht Herr im Wahlkampfe geblieben wäre und die
Vorkommnisse der letzten Tage sind daher höchst
bedeutungsvoll. Wenn auch die erste Erregung
und die kühnen Erwartungen der Gegner einer
engen Verbindung österreichs mit Ungarn sich
bald beruhigen werden, so kann doch kein
Freund der Großmachtstellung der Monarchie
ohne Besorgnis in die Zukunft blicken. Das
Verlangen nach einer Trennung der beiden
Reichshälften wird jenseits der Leitha nun
sehr laut werden und wird wohl auch dies¬
seits vielfach ein Echo finden. Der Dualis¬
mus hat zweifellos durch die Niederlage
der liberalen Partei in Ungarn eine starke
Stütze verloren; dies wäre nun freilich nicht
zu bedauern, gelänge es, etwas Besseres, eine
auch den Interessen österreichs mehr entsprechende
die Machtstellung der Monarchie aber wie bisher
gewährleistende Form an die Stelle der jetzigen
staatsrechtlichen Verbindung zu setzen. In dieser
Frage wird auch Kroatien ein gewichtiges Wort
mitzusprechen haben und es wird daher interessant
sein, zu verfolgen, welchen Eindruck die Nieder¬
lage der herrschenden Partei in Ungarn dort
hervorrufen wird. Freilich, für die nächste
Zeit werden andere Fragen in den Vorder¬
grund treten. Die alte Majorität ist zertrümmert
eine neue aber noch nicht gebildet. Und das
wird nicht leicht sein. Ungarn geht jedenfalls
einer schweren Krise entgegen. Mehr denn je
ist es daher notwendig, daß die Volksstämme
Österreichs endlich Frieden schließen, damit die
diesseitige Reichshälfte geeinigt die Vorgänge
jenseits der Leitha verfolgen und gerüstet allzu
kühnen Forderungen entgegentreten könne.
nk-
Deutsches Volkstheater. Als literarisches
Opfer für den Altar der heimischen Dichtkunst:
Arthur Schnitzlers „Freiwild". Das dialekti¬
sche Rechenexempel ist mit der gerühmten Fein¬
heit, Ehrlichkeit und Energie unseres vornehmsten
Wiener Dramatikers durchgeführt. Die Gleichung
ward zum Kunststück; das Monotone zur Span¬
nung; die Tendenz zur Sentenz; nur das Er¬
klügelte wollte nicht Leben werden. Schnitzler
schrieb ein einziges Theaterstück - „Das Frei¬
wild. Wenn ich nicht irre, besitzt das Volks¬
theater unter seinen zahlreichen Rückständen auch
den „Grünen Kakadu", Schnitzlers kräftigstes,
größtes Werk, in dem er über sich und seine
Welt hinauswuchs. Wollte man ein bißchen
protestieren — so zahm, wie wir das eben ver¬
mögen — wäre eine Aufführung dieses Ge¬
dichtes zweckmäßiger gewesen.
Die Qualitäten des älteren und alt ge¬
wordenen „Freiwilds" spürt man schon noch,
aber wie weit hat sich Schnitzler seither von
ihm entfernt? Der Dichter der „Liebelei" und
des „Anatol“ ist ein Meister der dunkeln, leisen,
sanften Halbtone. Das Reich seiner Freuden
und noch mehr das seiner Leiden liegt in der
Seele, er dürfte nicht zur Wiener Schule ge¬
hören, wenn Kraft= und Kampfprobleme seine
Sache wären. So kommt es denn, daß diesem
Duellstücke der Glaube fehlt; der Einsatz einer
unanfechtbaren Anschauung. Aus dem Dichter
wird ein Experimentator und Schnellrechner.
Aber: deswegen ist uns ein Schnitzler immer
noch teurer als das ganze übliche Repertoire, und
es tut doch gut, einmal in Wien einen Wiener
Dichter — einen von jenen, die man prinzipiell
ignoriert — gespielt zu sehen; gut gespielt zu
sehen! Herrn Kutschera fiel es zu, die schwie¬
rige Rolle des Paul durch sein Wesen begreiflich
zu machen. Typisch waren die Herren Kramer
und Höfer. Aufgefallen ist wieder Fräulein
Erl, die mit hoher schauspielerischer Energie
intime und bewegende Eindrücke erzwingt; in
ihr ist eine Natur, die das Theater vergessen
machen kann.
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Raimundtheater. Rudolf Havel ist
mit einer neuen dramatischen Arbeit vor die
öffentlichkeit getreten. Es ist, Gott sei Dank,
kein literarisches Werk, sondern ein Volksstück,
so völlig frei von allem, was nach Drucker¬
schwärze riecht, „Die sogenannten Natur¬
dichter", sagt Goethe in seinen Sprüchen in
Prosa, „sind frisch und neu aufgeforderte,