5. Liebelei
e. box 10/1
Wien, 14. October.
L. Arthur Schnitzler, einer der begabtesten Dichter
der jung=österreichischen Schule hat den Typus Anatol's
geschaffen, die Figur des Lebejünglings, der die Liebe
kennt und eben darum die Liebelei bevorzugt. Und der¬
selbe Schriftsteller hat uns in dem Schauspiele „Liebelei“
gezeigt, wie die Frivolität mit tragischer Schicksalsmacht
in das Gemüthsleben eines schlichten Wesens einzugreifen
vermag. Christine Weiring schenkt ihre Liebe dem, für den
sie nur Liebelei ist. Sie sieht in ihm Alles, er in ihr
Nichts. An diesem Mißverhältniß geht das unglückliche
Kind zugrunde.
Auf der Bühne des Burgtheaters mag sich diese
Geschichte sehr schön ausnehmen. Sie mag rühren und
erschüttern, Thränen erpressen und Beifall erringen. Auf
der Bühne des öffentlichen Lebens ist sie nicht am Platze.
Leider wird sie gerade auf dieser mit einem Ernste der
*
Inscenirung aufgeführt, der eines Besseren würdig wäre.
Acal
Ja, auch auf dem Gebiete der Politik hat sich bei uns
#n bei
zimeng
ein Anatoltypus herausgebildet. Der Mann kennt
die Ueberzeugung, aber er weiß, daß man ihr
1680
Opfer bringen muß. Opfer? Das ist ein Wort,
das nicht in seinem Lexicon steht. So wendet
R.
er sich denn in jedem Augenblick jener Richtung zu, die
ihm am meisten Erfolg verheißt. Er geht den Weg des
geringsten Widerstandes und der größten Wirkung. In
früheren Zeiten, die mit ihrem Urtheil schneller und ent¬
schiedener bei der Hand waren, hat man dergleichen
Gesinnungslosigkeit genannt. Heute ist man duldsamer.
Man verhüllt die Sache unter einem fremden und
beschönigenden Ausdruck. Man spricht von Opportunismus.
Der Opportunist ist nicht seiner Meinung. Er macht die
beste, die nützlichste, die zweckmäßigste zu der seinen. Er
ist heute Demokrat, morgen Liberaler, übermorgen
Clerikaler, schließlich Antisemit wie Dr. Lueger. Er läßt
1#: Mandat geben und schwenkt morgen von dem Programm
ab, auf das hin er gewählt worden, wie Dr. Billing
und seine Leute.
Dem Abfalle der Mandanten
folgt der Abfall der Mandatare. Nicht genug
935
daran, daß den Gegnern der Verfassung die
erdrückende Majorität in den Schoß fiel, und die fort¬
schrittlich gesinnte Partei des Gemeinderathes in die
Opposition gedrängt wurde. Das siegreiche Vordringen
der Antisemiten hat noch keine Schranken gefunden. Ihre
Schaaren bleiben fest. Keiner verläßt die gemeinsame
Fahne. Auf der anderen Seite weichen die Ungetreuen,
die Disciplin lockert sich, die Einheitlichkeit der Führung
ist nicht zu bewirken, die Abfallsmänner bilden die Ab¬
fallsstoffe, welche bestimmt sind, die Saat der clerikalen
Partei zu düngen. Und während sich der Held der po¬
litischen Komödie für die räthselhafte Dame in Schwarz,
für die Reaction schlägt, bleibt die demokratische Gleich¬
berechtigung, bleibt die Freiheit als „süßes Mädel“ sitzen.
Auch sie hat für den Liebsten, für den Mann ihrer Wahl
Alles gethan, sie hat ihm Alles hingegeben, sie hat ihm
blindes Vertrauen gezollt. Nun überläßt er sie der Ver¬
zweiflung, sie war ihm Nichts gewesen, weniger als das:
eine „Liebelei!“
Gerade angesichts des unmoralischen Verhältnisses
verlangt man nach der Moral. Im Drama ist sie zu
finden. Schnitzle's Anatol, den er für's Burgtheater
Fritz nennt, wird im Duell von dem racheschnaubenden
Ehegatten erschossen. Christine, das Mädel aus der Vor¬
stadt, verläßt das Vaterhaus, als sie sich schnöde hinter¬
gangen sieht, sie will sich ein Leides anthun. Und der
alte Weiring, der ihr nicht zu folgen vermag, stürzt zu
Boden. „Sie wird nicht wiederkommen,“ ruft er, „sie
wird nicht wiedirkommen“. Wird die Freiheit auch nicht
wiederkommen? Wir können diesen Gedanken nicht fassen.
Auch im Leben muß das Sittengesetz herrschen, sonst käme
es aus diesem nicht auf die Bühne. Und wenn es sich
auch außerhalb des Musentempels bethätigt, dann muß
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Wien, 14. October.
L. Arthur Schnitzler, einer der begabtesten Dichter
der jung=österreichischen Schule hat den Typus Anatol's
geschaffen, die Figur des Lebejünglings, der die Liebe
kennt und eben darum die Liebelei bevorzugt. Und der¬
selbe Schriftsteller hat uns in dem Schauspiele „Liebelei“
gezeigt, wie die Frivolität mit tragischer Schicksalsmacht
in das Gemüthsleben eines schlichten Wesens einzugreifen
vermag. Christine Weiring schenkt ihre Liebe dem, für den
sie nur Liebelei ist. Sie sieht in ihm Alles, er in ihr
Nichts. An diesem Mißverhältniß geht das unglückliche
Kind zugrunde.
Auf der Bühne des Burgtheaters mag sich diese
Geschichte sehr schön ausnehmen. Sie mag rühren und
erschüttern, Thränen erpressen und Beifall erringen. Auf
der Bühne des öffentlichen Lebens ist sie nicht am Platze.
Leider wird sie gerade auf dieser mit einem Ernste der
*
Inscenirung aufgeführt, der eines Besseren würdig wäre.
Acal
Ja, auch auf dem Gebiete der Politik hat sich bei uns
#n bei
zimeng
ein Anatoltypus herausgebildet. Der Mann kennt
die Ueberzeugung, aber er weiß, daß man ihr
1680
Opfer bringen muß. Opfer? Das ist ein Wort,
das nicht in seinem Lexicon steht. So wendet
R.
er sich denn in jedem Augenblick jener Richtung zu, die
ihm am meisten Erfolg verheißt. Er geht den Weg des
geringsten Widerstandes und der größten Wirkung. In
früheren Zeiten, die mit ihrem Urtheil schneller und ent¬
schiedener bei der Hand waren, hat man dergleichen
Gesinnungslosigkeit genannt. Heute ist man duldsamer.
Man verhüllt die Sache unter einem fremden und
beschönigenden Ausdruck. Man spricht von Opportunismus.
Der Opportunist ist nicht seiner Meinung. Er macht die
beste, die nützlichste, die zweckmäßigste zu der seinen. Er
ist heute Demokrat, morgen Liberaler, übermorgen
Clerikaler, schließlich Antisemit wie Dr. Lueger. Er läßt
1#: Mandat geben und schwenkt morgen von dem Programm
ab, auf das hin er gewählt worden, wie Dr. Billing
und seine Leute.
Dem Abfalle der Mandanten
folgt der Abfall der Mandatare. Nicht genug
935
daran, daß den Gegnern der Verfassung die
erdrückende Majorität in den Schoß fiel, und die fort¬
schrittlich gesinnte Partei des Gemeinderathes in die
Opposition gedrängt wurde. Das siegreiche Vordringen
der Antisemiten hat noch keine Schranken gefunden. Ihre
Schaaren bleiben fest. Keiner verläßt die gemeinsame
Fahne. Auf der anderen Seite weichen die Ungetreuen,
die Disciplin lockert sich, die Einheitlichkeit der Führung
ist nicht zu bewirken, die Abfallsmänner bilden die Ab¬
fallsstoffe, welche bestimmt sind, die Saat der clerikalen
Partei zu düngen. Und während sich der Held der po¬
litischen Komödie für die räthselhafte Dame in Schwarz,
für die Reaction schlägt, bleibt die demokratische Gleich¬
berechtigung, bleibt die Freiheit als „süßes Mädel“ sitzen.
Auch sie hat für den Liebsten, für den Mann ihrer Wahl
Alles gethan, sie hat ihm Alles hingegeben, sie hat ihm
blindes Vertrauen gezollt. Nun überläßt er sie der Ver¬
zweiflung, sie war ihm Nichts gewesen, weniger als das:
eine „Liebelei!“
Gerade angesichts des unmoralischen Verhältnisses
verlangt man nach der Moral. Im Drama ist sie zu
finden. Schnitzle's Anatol, den er für's Burgtheater
Fritz nennt, wird im Duell von dem racheschnaubenden
Ehegatten erschossen. Christine, das Mädel aus der Vor¬
stadt, verläßt das Vaterhaus, als sie sich schnöde hinter¬
gangen sieht, sie will sich ein Leides anthun. Und der
alte Weiring, der ihr nicht zu folgen vermag, stürzt zu
Boden. „Sie wird nicht wiederkommen,“ ruft er, „sie
wird nicht wiedirkommen“. Wird die Freiheit auch nicht
wiederkommen? Wir können diesen Gedanken nicht fassen.
Auch im Leben muß das Sittengesetz herrschen, sonst käme
es aus diesem nicht auf die Bühne. Und wenn es sich
auch außerhalb des Musentempels bethätigt, dann muß