Liebelei
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Die Berliner Theatersaison 1895/96.
487
Theater weit voran. Sein Direktor, der bekannte Kleist= und
Schillerbiograph Otto Brahm, führte den in der Freien Bühne
eröffneten Kampf für das moderne Drama muthig und zäh fort,
ohne von der dichterischen Produktion allzu verläßlich unterstützt
zu werden. Er unterzog sich der undankbaren Pflicht, Gerhart
Hauptmanns „Florian Geyer“ auf die Bretter zu zwingen; er
führte in Georg Hirschfeld und Moritz Heimann aus Berlin,
Ernst Rosmer aus München, Arthur Schnitzler aus Wien, vier
neue junge Dichter von hoher Begabung und starker Hoffnung ein;er
zeigte uns die beiden erfolggekröntesten Theaterautoren der letzten
Jahre, Ludwig Fulda, den Dichter des „Talisman“, und Max
Halbe, den Dichter der „Jugend“, auf interessanten Irrpfaden ihrer
weitern Entwicklung, und er reparirte die Brücke von neuer zu
alter Kunst nicht blos durch „den Meister von Palmyra“, die
stilvolle Gedankendichtung des fein grübelnden Adolf Wilbrandt,
sondern leider sogar durch „die junge Frau Arneck“ ein
ödes Brettermachwerk des banausischen Hugo Lubliner (vormals
Bürger). Daneben wollte Brahm die klassische Ueberlieferung
seines Theaters nicht völlig hintansetzen und veranstaltete von
Shakespeare, Kleist, Grillparzer Aufführungen, die aber dürftig
und trocken, ohne rechte Stimmung und rechtes Temperament aus¬
zufallen pflegten. Brahm hatte bei der Zusammenstellung seines
schauspielerischen Personals, bei der Auswahl seiner Regisseure auf
einseitig modernes Talent zu sehr Bedacht genommen. Außer
Josef Kainz, von dem sich die poesievolle Teresina Geßner trennen
mußte, verfügt das Deutsche Theater jetzt über keinen Schauspieler,
dem der Stil der Verstragödie zur Natur geworden ist; die herz¬
hafte Volksthümlichkeit der Else Lehmann, die geistreiche Schärfe
der Marie Meyer, die schmiegsame, schmeichelnde Grazie der
Agnes Sorma, der Gestaltenreichthum Hermann Müllers, die
germanische Männlichkeit Nissens, der seelendeutende Zug Reichers,
die strotzend spröde und herbe Jugendkraft Rittners, dazu begrenztere
Talente wie die kleine schnippische Berlinerin Eberty, das fesche
Wiener Blut Gisela Schneider, die Herren Biensfeld, Hanns Fischer,
Köhler, Pauli und der prächtige Jubelgreis Ludwig Menzel, dessen
Ehrentag dem alten Nestroyschen „Lumpazivagabundus“ zu einem
ebenso späten wie ungeahnten Triumph (Kainz als Schneider Zwirn)
verholfen hatte, — ihnen Allen fehlt der sogenannte höhere Schwung,
jene metaphysische Ader, kraft deren Uebersinnliches sinnlich, Ueber¬
32
Preußische Jahrbücher. Bd. LXXXV. Hest 3.
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Die Berliner Theatersaison 1895/96.
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Theater weit voran. Sein Direktor, der bekannte Kleist= und
Schillerbiograph Otto Brahm, führte den in der Freien Bühne
eröffneten Kampf für das moderne Drama muthig und zäh fort,
ohne von der dichterischen Produktion allzu verläßlich unterstützt
zu werden. Er unterzog sich der undankbaren Pflicht, Gerhart
Hauptmanns „Florian Geyer“ auf die Bretter zu zwingen; er
führte in Georg Hirschfeld und Moritz Heimann aus Berlin,
Ernst Rosmer aus München, Arthur Schnitzler aus Wien, vier
neue junge Dichter von hoher Begabung und starker Hoffnung ein;er
zeigte uns die beiden erfolggekröntesten Theaterautoren der letzten
Jahre, Ludwig Fulda, den Dichter des „Talisman“, und Max
Halbe, den Dichter der „Jugend“, auf interessanten Irrpfaden ihrer
weitern Entwicklung, und er reparirte die Brücke von neuer zu
alter Kunst nicht blos durch „den Meister von Palmyra“, die
stilvolle Gedankendichtung des fein grübelnden Adolf Wilbrandt,
sondern leider sogar durch „die junge Frau Arneck“ ein
ödes Brettermachwerk des banausischen Hugo Lubliner (vormals
Bürger). Daneben wollte Brahm die klassische Ueberlieferung
seines Theaters nicht völlig hintansetzen und veranstaltete von
Shakespeare, Kleist, Grillparzer Aufführungen, die aber dürftig
und trocken, ohne rechte Stimmung und rechtes Temperament aus¬
zufallen pflegten. Brahm hatte bei der Zusammenstellung seines
schauspielerischen Personals, bei der Auswahl seiner Regisseure auf
einseitig modernes Talent zu sehr Bedacht genommen. Außer
Josef Kainz, von dem sich die poesievolle Teresina Geßner trennen
mußte, verfügt das Deutsche Theater jetzt über keinen Schauspieler,
dem der Stil der Verstragödie zur Natur geworden ist; die herz¬
hafte Volksthümlichkeit der Else Lehmann, die geistreiche Schärfe
der Marie Meyer, die schmiegsame, schmeichelnde Grazie der
Agnes Sorma, der Gestaltenreichthum Hermann Müllers, die
germanische Männlichkeit Nissens, der seelendeutende Zug Reichers,
die strotzend spröde und herbe Jugendkraft Rittners, dazu begrenztere
Talente wie die kleine schnippische Berlinerin Eberty, das fesche
Wiener Blut Gisela Schneider, die Herren Biensfeld, Hanns Fischer,
Köhler, Pauli und der prächtige Jubelgreis Ludwig Menzel, dessen
Ehrentag dem alten Nestroyschen „Lumpazivagabundus“ zu einem
ebenso späten wie ungeahnten Triumph (Kainz als Schneider Zwirn)
verholfen hatte, — ihnen Allen fehlt der sogenannte höhere Schwung,
jene metaphysische Ader, kraft deren Uebersinnliches sinnlich, Ueber¬
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Preußische Jahrbücher. Bd. LXXXV. Hest 3.