Liebe
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Die Berliner Theatersaison 1895/96.
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unholde Motiv wieder, das für den Zartsinn unserer Vorfahren
nicht gerade Zeugniß ablegt. Beide Male, im elften wie im
sechzehnten Jahrhundert, handelt sichs darum, daß Unbotmäßigen
zur Strafe die Augen ausgestochen werden. Der kleine Knabe
Heinrich trifft (hinter den Coulissen) blinde Männer am Weg und
erfährt zu seinem kindlichen Entsetzen, daß ein Sachsenhäuptling
sie habe blenden lassen. Zeuge dieser jugendlichen Entrüstung war
Hildebrand. Als sich nach vielen Jahren Papst und König auf der
Engelsburg zum letzten Male gegenüberstehn, versetzt zu jenem
Heinrich dieser Hildebrand: „Was Du mir gesagt hast an dem Tage zu
Goslar, weißt Du es noch? Daß Du nicht dulden wolltest, daß sie armen
Leuten das Angesicht nehmen — Königlicher Knabe, Königlicher Mensch
denk an Dein Wort, mach es zur That, mach sehend die Blinden,
mach sehend ihre Augen für ihr ewiges Heil! Du aller Menschen
Erster, Du aller Menschen Gewaltigster, beuge Dich zuerst, unter¬
wirf Dich zuerst, kniee nieder vor dem, das größer ist als Du.“
Bei Hauptmann führt (auf der Bühne) ein altes Weib den ge¬
blendeten Sohn herein; über dem Unglürk sind Beide in religiösen
Wahnwitz gefallen. Die Mutter erzählt den Hergang der Blendung
mit einem schaurigen Humor, immer unterbrochen vom Sohn und
sich selbst unterbrechend mit plärrender Litanei: „Heilige Maria
— bitte für uns — hodie tibi, cras sibi, St. Paulus, St.
Bartholomäus, die zween Söhne Zebedäus, der heilige St. Wenzel
und der selige Stenzel, die sein gut vor's kalte Weh und behüten
vor Donner und Schnee“. Dem Urtheil unserer gründlichsten Geschichts¬
forscher sei die Entscheidung überlassen, ob dort nicht Alles leerer
Ueberschwang, hier nicht Alles lauter Realität ist. Wenn trotzdem
auf der Bühne jene Szene stärker wirkte als diese, so bestätigte
sich die alte Erfahrung, daß ein tönendes Erz und eine klingende
Schelle weitern Anklang finden, als die schlichte Darstellung eines
Vorgängs, dessen tiefere Bedeutung von der Einbildungskraft der
Zuschauer erfaßt sein will. Die beiden Szenen sind bezeichnend
für die beiden Stücke, in denen sie vorkommen.
Wildenbruch ergriff eine weltgeschichtliche Idee, den Kampf,
den Staat und Kirche um die Oberhoheit führen. Aus diesem
ideellen Kampf sah er berauscht effektvolle Kontraste, sensationelle
Konflikte aufsteigen. Er personifizirte die beiden ideellen Gegen¬
sätze: Die Kirche trägt der Papst Gregor, den Staat trägt
der König Heinrich. Zu Individuen hat er Beide nicht ent¬
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Preußische Jahrbücher. Bd. LXXXV. Heft 3.
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Die Berliner Theatersaison 1895/96.
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unholde Motiv wieder, das für den Zartsinn unserer Vorfahren
nicht gerade Zeugniß ablegt. Beide Male, im elften wie im
sechzehnten Jahrhundert, handelt sichs darum, daß Unbotmäßigen
zur Strafe die Augen ausgestochen werden. Der kleine Knabe
Heinrich trifft (hinter den Coulissen) blinde Männer am Weg und
erfährt zu seinem kindlichen Entsetzen, daß ein Sachsenhäuptling
sie habe blenden lassen. Zeuge dieser jugendlichen Entrüstung war
Hildebrand. Als sich nach vielen Jahren Papst und König auf der
Engelsburg zum letzten Male gegenüberstehn, versetzt zu jenem
Heinrich dieser Hildebrand: „Was Du mir gesagt hast an dem Tage zu
Goslar, weißt Du es noch? Daß Du nicht dulden wolltest, daß sie armen
Leuten das Angesicht nehmen — Königlicher Knabe, Königlicher Mensch
denk an Dein Wort, mach es zur That, mach sehend die Blinden,
mach sehend ihre Augen für ihr ewiges Heil! Du aller Menschen
Erster, Du aller Menschen Gewaltigster, beuge Dich zuerst, unter¬
wirf Dich zuerst, kniee nieder vor dem, das größer ist als Du.“
Bei Hauptmann führt (auf der Bühne) ein altes Weib den ge¬
blendeten Sohn herein; über dem Unglürk sind Beide in religiösen
Wahnwitz gefallen. Die Mutter erzählt den Hergang der Blendung
mit einem schaurigen Humor, immer unterbrochen vom Sohn und
sich selbst unterbrechend mit plärrender Litanei: „Heilige Maria
— bitte für uns — hodie tibi, cras sibi, St. Paulus, St.
Bartholomäus, die zween Söhne Zebedäus, der heilige St. Wenzel
und der selige Stenzel, die sein gut vor's kalte Weh und behüten
vor Donner und Schnee“. Dem Urtheil unserer gründlichsten Geschichts¬
forscher sei die Entscheidung überlassen, ob dort nicht Alles leerer
Ueberschwang, hier nicht Alles lauter Realität ist. Wenn trotzdem
auf der Bühne jene Szene stärker wirkte als diese, so bestätigte
sich die alte Erfahrung, daß ein tönendes Erz und eine klingende
Schelle weitern Anklang finden, als die schlichte Darstellung eines
Vorgängs, dessen tiefere Bedeutung von der Einbildungskraft der
Zuschauer erfaßt sein will. Die beiden Szenen sind bezeichnend
für die beiden Stücke, in denen sie vorkommen.
Wildenbruch ergriff eine weltgeschichtliche Idee, den Kampf,
den Staat und Kirche um die Oberhoheit führen. Aus diesem
ideellen Kampf sah er berauscht effektvolle Kontraste, sensationelle
Konflikte aufsteigen. Er personifizirte die beiden ideellen Gegen¬
sätze: Die Kirche trägt der Papst Gregor, den Staat trägt
der König Heinrich. Zu Individuen hat er Beide nicht ent¬
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Preußische Jahrbücher. Bd. LXXXV. Heft 3.