II, Theaterstücke 5, Liebelei. Schauspiel in drei Akten, Seite 286

Liebelei
5. „ennnen 4.
box 10/3
Die Berliner Theatersaison 1895/96.
505
sich Alles, was nach Canossa führt. Gewiß entspricht diesem
Brief ein historisches Dokument, aber die ganze Verwicklung und
Verkettung der historischen Ereignisse auf einen einzigen schriftlichen
Willensakt zurückzuführen, ist widersinnig. Dafür ist es ein
raffinirter Theaterkoup, den Wildenbruch überaus geschickt für zwei
volle Akte zu verwerthen weiß. Wir sind dabei, wenn der Brief „unter
Gewalt“ diktirt wird, und wir sind dabei, wenn der Brief seine
Adresse erreicht. Dort kollert der König, hier kollert der Papst.
Das Ergebniß dieser Truthahnstimmungen ist der welthistorische
Bannstrahl, den Papst Gregor gegen König Heinrich schleudert.
Hat das Briefmotiv mehr als seine Schuldigkeit gethan, so sind
es nunmehr Damen, die den weitern Gang der großen Ereignisse
bestimmen. Daß Heinrich nach Canossa geht, ist ein Werk der
Ueberredungskunst seiner bisher von ihm verschmähten Gemahlin
Bertha. Daß der Papst ihn endlich in Canossa aufnimmt, ist ein
Werk der Ueberredungskunst seiner bisher von ihm gehaßten Mutter
Agnes. Aber was diese Fürstinnen ausheckten, führt zum Unheil.
Nur für wenige Sekunden liegen sich Papst und König unter
fluthenden Zähren und fast in bräutlichen Wonnen an der Brust.
Gleich drauf ist erst recht wieder der Teufel los, denn auf Canossa
sind neben Heinrich auch alle seine Feinde aus dem Deutschen
Reich zugegen, und es kommt sehr bald heraus, daß der Papst
noch immer schwankt, ob er Heinrich oder dessen Gegenkönig
Rudolf von Schwaben zum Kaiser krönen soll. Da verspürt
Heinrich, wie er sich echt Wildenbruchisch ausdrückt, „Blutgeheul
in seiner Seele“; er kann an der frischen Leiche seiner Mutter
nicht mehr beten, und der Kampf zwischen Kirche und Staat steht
nun erst recht auf seiner Spitze. Von der tiefen schweren Stimmung,
die man empfindet, wenn man etwa bei Giesebrecht die Vorgänge
auf Canossa nachliest, ist im Drama keine Spur. Nur Halloh und
Zetermordio. Und als sich der Vorhang zum letzten Akte wieder
hebt, ist, wer weiß, wie das geschah, die Weltlage völlig verändert.
Canossa hat sich in die Engelsburg verwandelt. König Heinrich
bedroht die Peterskirche. Der Papst, der vor der Zwischenpause in
seiner nächsten Umgebung im festen Burgfrieden seiner Freundin alle
Todfeinde Heinrichs gegen diesen zur Hand hatte und somit in der
Hand die Weltgeschicke hielt, liegt jetzt, plötzlich an Leib und Seele
gebrochen, ein überwundener Greis, auf dem letzten Lager. Wie
das geschah, lies bei Giesebrecht. Bei Wildenbruch treibt der ster¬
bende Gregor nur noch ein kokettes Spiel mit der Kaiserkrone
33*