Lie
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Theater, Musik und Kunst.
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Irving Place=Theaker.
Auf den künstlerischen Erfolg der ersten
A
Woche ihres Gastspiels darf Agnes
Sorma mit hoher Befriedigung zurück¬
blicken. Sie hat uns die Künstlerin in ####
zwei verschiedenen Frauengestalten gezeigt'
deren einander prächtig ergänzende Eigen¬
schaften ein helles Licht auf die bedeutsame
Darstellungskunst des Gastes geworfen
haben.
Daß sie mit ihrer „Nora“ den weitaus
stärkeren Eindruck gemacht hat, liegt
in der Natur des Ibsen'schen Schauspiels
mit seiner nervenfolternden Spannung
der Handlung. Was aber daneben ihre
„Christine“ in dem Schnitzler'schen Volks¬
stück: „Liebelei“ an kraftvollen Effekten
einbüßt, das gewinnt sie in gleich hohem
Maße durch den Reiz der schlichten, un¬
mittelbaren Intimität, in der das einfache
Herzensleben dieses jungen Mädchens vor
uns entfaltet und durch Agnes Sorma in
köstlicher Innerlichkeit zur Darstellung ge¬
bracht wird.
Freilich ist der Reiz nur vorhanden für
diejenigen, welche Empfänglichkeit und
Verständniß besitzen für den dichterischen
Werth dieses ganzen, schlicht= realen
Genre's moderner Bühnen = Poesie, d. h.
mittelbar für den Verzicht auf jegliche
starke sogenannte Theaterwirkung, die sich
nicht mit absoluter, widerspruchsloser Na¬
türlichkeit aus dem Verlauf einfacher, le¬
benswahrer Geschehnisse ergiebt.
In Arthur Schnitzler's „Liebelei“ ist
die Gestalt der Christine, ist das Herzens¬
leben dieses unscheinbaren Mädchens aus
dem Volke das Stück. Alle anderen Fi¬
guren geben nur den Hintergrund ab, auf
dem sich die Gestalt der schlichten Musi¬
kantentochter und ihr Liebesgeschick relief¬
artig abheben. Nicht als ob diese ande¬
ren Figuren dadurch für Dichtung und
Darstellung zur Nebensache würden.
Durchaus nicht. Wie jedes wirkliche Re¬
lief mit seinem Grunde engverwachsen ist,
so steht auch hier und in allen Bühnen¬
dichtungen des Genre's,sei es durch kon¬
trastirende, sei es durch ergänzende Eigen¬
schaften und Stimmungen, die Central¬
figur der Dichtung im intimsten Zusam¬
menhang mit den anderen,wird sie erst mit
ihnen und durch sie und ihr Milieu voll
und ganz verständlich.
Für die unmittelbare Wirkung dieser Art
von Stücken ist es unerläßlich, daß Dich¬
tung und Darstellung für die Stimmung,
für die Atmosphäre sorgen, welche über dem
Ganzen liegen muß; natürlich mit Varian¬
ten in den wechselnden Soenen und Auf¬
züge. Im ersten Akt des Schnitzler'schen
Werkes z. B. haben wir das Souper der bei¬
den jungen Leute mit ihren Liebchen. In¬
deß Lust und Freude wollen nicht recht auf¬
kommen. Bei Christine nicht, welche von
Natur sentimental veranlagt ist und nur
zu voller Daseinslust erwachen könnte,
wenn Alles um sie herum wolkenlos wäre.
Aber wie sollte das sein? Sie hat sich ja in
inniger Liebe einem Manne ganz ergeben,
von dem sie weiß, daß er sie früher oder spä¬
ter verlassen wird; daß die Seligkeit ihres
Liebesglückes nur vorübergehend sein wird.
Eine Nakur, wie die ihre, kann dieses kurze
Glück nicht ungetrübt genießen. Und vol¬
lens an diesem Abend nicht, wo nicht nur
unklare Ahnungen ihr Herz bedrücken,son¬
dern bereits in der bestimmteren Gestalt
einer geheimnißvollen schönen Nebenbuhle¬
rin am Horizont auftauchen. Der Eine,der
alle diese Sorgenwolken am Himmel ver¬
scheuchen könnte, ihr geliebter Fritz, ist selbst
nicht mehr frei davon. Auch auf seiner
Stimmung liegt ein Schatten. Er ist der
Liebelei mit dem Mädchen aus dem Volke
bereits überdrüssig, er mag ihre tiefsenti¬
mentale Art, sich zu geben, nicht mehr; er
liegt bereits in den Fesseln eines anderen,
eines „interessanten“ Weibes und nur in
Christinen's unmittelbarer Nähe erwachen
wieder wärmere Gefühle für sie. Zudem ist
bereits eine Gefahr in Sicht getreten. Das
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Hereing
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Irving Place=Theaker.
Auf den künstlerischen Erfolg der ersten
A
Woche ihres Gastspiels darf Agnes
Sorma mit hoher Befriedigung zurück¬
blicken. Sie hat uns die Künstlerin in ####
zwei verschiedenen Frauengestalten gezeigt'
deren einander prächtig ergänzende Eigen¬
schaften ein helles Licht auf die bedeutsame
Darstellungskunst des Gastes geworfen
haben.
Daß sie mit ihrer „Nora“ den weitaus
stärkeren Eindruck gemacht hat, liegt
in der Natur des Ibsen'schen Schauspiels
mit seiner nervenfolternden Spannung
der Handlung. Was aber daneben ihre
„Christine“ in dem Schnitzler'schen Volks¬
stück: „Liebelei“ an kraftvollen Effekten
einbüßt, das gewinnt sie in gleich hohem
Maße durch den Reiz der schlichten, un¬
mittelbaren Intimität, in der das einfache
Herzensleben dieses jungen Mädchens vor
uns entfaltet und durch Agnes Sorma in
köstlicher Innerlichkeit zur Darstellung ge¬
bracht wird.
Freilich ist der Reiz nur vorhanden für
diejenigen, welche Empfänglichkeit und
Verständniß besitzen für den dichterischen
Werth dieses ganzen, schlicht= realen
Genre's moderner Bühnen = Poesie, d. h.
mittelbar für den Verzicht auf jegliche
starke sogenannte Theaterwirkung, die sich
nicht mit absoluter, widerspruchsloser Na¬
türlichkeit aus dem Verlauf einfacher, le¬
benswahrer Geschehnisse ergiebt.
In Arthur Schnitzler's „Liebelei“ ist
die Gestalt der Christine, ist das Herzens¬
leben dieses unscheinbaren Mädchens aus
dem Volke das Stück. Alle anderen Fi¬
guren geben nur den Hintergrund ab, auf
dem sich die Gestalt der schlichten Musi¬
kantentochter und ihr Liebesgeschick relief¬
artig abheben. Nicht als ob diese ande¬
ren Figuren dadurch für Dichtung und
Darstellung zur Nebensache würden.
Durchaus nicht. Wie jedes wirkliche Re¬
lief mit seinem Grunde engverwachsen ist,
so steht auch hier und in allen Bühnen¬
dichtungen des Genre's,sei es durch kon¬
trastirende, sei es durch ergänzende Eigen¬
schaften und Stimmungen, die Central¬
figur der Dichtung im intimsten Zusam¬
menhang mit den anderen,wird sie erst mit
ihnen und durch sie und ihr Milieu voll
und ganz verständlich.
Für die unmittelbare Wirkung dieser Art
von Stücken ist es unerläßlich, daß Dich¬
tung und Darstellung für die Stimmung,
für die Atmosphäre sorgen, welche über dem
Ganzen liegen muß; natürlich mit Varian¬
ten in den wechselnden Soenen und Auf¬
züge. Im ersten Akt des Schnitzler'schen
Werkes z. B. haben wir das Souper der bei¬
den jungen Leute mit ihren Liebchen. In¬
deß Lust und Freude wollen nicht recht auf¬
kommen. Bei Christine nicht, welche von
Natur sentimental veranlagt ist und nur
zu voller Daseinslust erwachen könnte,
wenn Alles um sie herum wolkenlos wäre.
Aber wie sollte das sein? Sie hat sich ja in
inniger Liebe einem Manne ganz ergeben,
von dem sie weiß, daß er sie früher oder spä¬
ter verlassen wird; daß die Seligkeit ihres
Liebesglückes nur vorübergehend sein wird.
Eine Nakur, wie die ihre, kann dieses kurze
Glück nicht ungetrübt genießen. Und vol¬
lens an diesem Abend nicht, wo nicht nur
unklare Ahnungen ihr Herz bedrücken,son¬
dern bereits in der bestimmteren Gestalt
einer geheimnißvollen schönen Nebenbuhle¬
rin am Horizont auftauchen. Der Eine,der
alle diese Sorgenwolken am Himmel ver¬
scheuchen könnte, ihr geliebter Fritz, ist selbst
nicht mehr frei davon. Auch auf seiner
Stimmung liegt ein Schatten. Er ist der
Liebelei mit dem Mädchen aus dem Volke
bereits überdrüssig, er mag ihre tiefsenti¬
mentale Art, sich zu geben, nicht mehr; er
liegt bereits in den Fesseln eines anderen,
eines „interessanten“ Weibes und nur in
Christinen's unmittelbarer Nähe erwachen
wieder wärmere Gefühle für sie. Zudem ist
bereits eine Gefahr in Sicht getreten. Das
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