II, Theaterstücke 5, Liebelei. Schauspiel in drei Akten, Seite 995

Anzahl Werke, die auf dramatischen Dichtungen klaf¬
sischer. Meister beruhen. Italiener, Franzosen und
Deutsche haben Texte für ihre Opern aus Schöpfungen
Shakespeares, Goethes, Schillers gezogen, und auch in
unsern Tagen sind es erfolgreiche epische und
dramatische Werke, denen zeitgenössische Tondichter ihre
Textbücher entnommen haben. Ich nenne von jenen
nur Sardou in seiner „Tosca“, Tolstej in seiner „Auf¬
erstehung“, Zola im „Abbé Mouret“ Hofmannsthal
in seiner „Salome“ und „Elektra“. Nun ist gestern
auch Franz Neumann auf der Bühne des Herrn
Gregor mit seiner Oper „Liebelei“ erschienen,
einem Werke, das dem gleichnamigen Schauspiel
Arthur Schnitzlers textlich sein Entstehen ver¬
dankt. Dieses Drama aus der Wiener Sphäre, das
in einer Liebelei der jungen Lebemänner Fritz und
Theodor mit den „süßen“ Wiener Mädels Christine
und Mizzi so fröhlich beginnt und in einem Tuell
des ersteren mit dem betrogenen Ehemann tregisch
endet, hat den phantasiereichen Komponisten zu einer
musikalischen Illustration seines Inhalts gelockt. Ist
aber jedes Schauspiel, das sich als bühnenwirksam
erweist, auch geeignet für eine Uimwandlung zur Oper?
Bei dem Schauspiel Schnitzlers muß die Frage ver¬
neint werden. Waz in dem gesprochenen Dialog
selbst in unwesentlichen Momenten natürlich erscheint,
wirkt in einer gesanglichen Umkleidung gezwungen,
wenn nicht gar lächerlich, und Neumann hat seinen Text
wortgetreu dem Drama Schnitzlers eninommen. Diese
kurzatmigen, oft nur wenige Worte enthaltenden Sätze,
machen in ihrer Vertonung den Eindruck einer
meiodischen Engbrüstigkeit. Wo wir die Lungenkraft
einer organisch entwickelten, warmblütigen, gesunden
Kantilene erwarten, läßt der Komponist seine Sänger
in musikalischen Phrasen, in abgerissenen Parlandos
sich ergehen. Solcher Sprechgesang wirkt aber auf
die Dauer eintönig. Wo diese Deklamationsmusik
von wirklichem Gesang unterbrochen wird, wie in
dem Liede Christines aus dem Lochheimer Liederbuch
und einigen anderen Stücken, atmet der Zuhörer
förmlich auf und erquickt sich an innig empfundenen,
ausdrucksvollen, schönen Melodien. Solcher er¬
frischenden Sätze enthält die Oper leider nicht allzu
viele, und wir werden die Befürchtung nicht los, daß
es dem Komponisten an der Fähigkeit, gesanglich zu
schreiben, überhaupt gebricht. Das ist aber das
Charakteristikum des modernen Musikdramas, daß die
Singstimmen geringschätzig behandelt werden, und
nur das Orchester aus den Schild erhoben wird. Auch
in dem Werke Neumanns ist es vornehmlich das
Orchester, in dem die eigentliche Begabung des
Komponisten zutage tritt. Hier beweist er einen Reich¬
tum an Ausdrucksmitteln, die ihre Wirkung nur selten
versagen. Für jede Stimmung, für jeden Gefühls¬
affekt, im Heitern wie im Ernsten, hat er die ent¬
sprechenden instrumentalen Farben auf seiner Palette
und das Kolorit ist meist von intensiver Leuchtkraft.
Von cein orchestralen Stücken ist das Vorspiel zum
dritten Akt, obgleich etwas gedehnt, als ein den
tragischen Ausgang kündendes Tongemälde besonders
hervorzuheben. In kleineren Formen ist manches
heitere Sätzchen Wiener Geblüts von anmutender
Wirkung.
Dieses spezifisch Wiener Gepräge hatte die Gesamt¬
iufführung der Oper. Die in d# Verschiedenheit ihres
„Tbarakters vort 1s geeichneten Fiauren der
Christine und der Mizzi wurden von Maria Labia
und Susanne Bachrich musikalisch und schaue
spielerisch lebensvoll verkörpert. Namentlich die erstere
erhob sich in der kraftvollen Steigerung ihrer Relle
bis zur Schlußszene, in der sie den Tod ihres im Duell
gefallenen Geliebten erfährt, zu tragischer Höhe. In
Jcan Radolovitch als Fritz hatte die Künstle¬
rin einen würdigen Partner. Das Abschiedsduett des
Liebespaares war von ergreifender Wirkung. Einen
liebenswürdigen Bonvivant mit einem Schutz Wiener
Gemüt gab Richard Wissiak in seinem Theodor.
Rübrend in seiner väterlichen Zärtlichkeit war der alte
Weiring Desidor Zadors. Niederschmetternd in
der Wucht seiner Darstellung der betrogene Ehemann
Karl Armsters in seiner Szene mit Fritz; und
eine dem Leben abgelauschte Wiener Klatschbase gab
Emma Seebold an der drolligen Frau Binder.
Mit einem solchen auf das Subtilste abgetönten
Ensemble das Kapellmeister v. Rezniceck musikalisch
und Tirektor Gregor als Abschieds=Regisseur
szenisch leitete, war ein bedeutender Erfolg zu er¬
zielen, und dank dieser ausgezeichneten Darstellung
errang ihn die Novität. Das Publikum war begeistert
und rief mit den Darstellern den Komponisten un¬
I.L.
zählige Male vor die Gardine.
5. Liebelei box 12/1

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Ausschnitt aus
ossische Zeitung, Berlis
vom:
21
911
S
Tbeater und Musik.
Komische Oper.
Freitag, 20. Januar. Zum 1. Male: „Liebelei“. Oper in
3 Akten von Franz Nenmann. Dichtung von Arthur Schnitzler.
Wenn in dem Begriff Komponist etwa das eingeschlossen ist, was
den Dichter vom Schriftsteller unterscheidet, so
ist Herr Franz
Neumann, der gestern nach dem dritten Akt oft, nach dem zweiten
Akt öfter vor der Gardine erscheinen konnte, sicherlich kein
Komponist. Wir haben in der Musik nur dis eine Wort,
auf deutsch Tonsetzer, und müssen, wenn wir betonen wollen,
daß einer, der in Tönen dichtet, ein Dichter ist, ein Berufener und
Auserwählter, Umstände machen. Aber wir haben den Begriff:
Kapellmeistermusik. Herr Neumann schreibt Kapellmeistermusik; er
hat nur im Sinne eine Musik zu schreiben, die dem Zweck ent¬
spricht, die klingt; daß sie nebenbei auch anklingt, liegt in der
Natur der Sache; und daß sie überall auf den Effekt zu¬
geschnitten ist, braucht kaum ausdrücklich erwähnt zu werden.
Dick, schwerflüssig,
süßlich, sentimental
diese Musik;
ihre Grundstimmung. In den lustigen Szenen des ersten
Aktes macht sie Anleihen bei der modernen Operette; Herr Neumann
kann nicht lustig sein, ohne in Polka= oder Walzerrhythmen zu ver¬
fallen. In den dramatischen Szenen vollführen Blechbläser und
Panken einen brünstigen Lärm, verfällt Herr Neumann in eine
Ekstase, die er von den Jungitalienern bezieht. Wollen wir ihn
registrieren, so lassen wir den Namen: Giacomo Puccini fallen. Doch
ist Puccini origineller, feiner, eleganter, dezenter. Auf die Geschicklich¬
keit des Herrn Neumann habe ich hingewiesen, indem ich seine
Musik Kapellmeistermusik nannte. Diese Art von Geschicklichkeit,
diese handwerkerliche Tüchtigkeit darf nicht unterschätzt werden;
immerhin dürfen wir sie gering schätzen. Ich weiß nicht, ob die
Oper „Liebelei“ einen nachhaltigen Erfolg haben wird; wer wollte
sich erdreisten, die Psyche des großen Publikums zu er¬
gründen! In den Bereich der echten, der hohen Kunst gehört
das Werk nicht.

Arthur Schnitzlers bekanntes Drama
einfach herzunehmen und unter Musik zu setzen, ist ein Unternehmen,
das nicht gebilligt werden kann. Die Oper hat andere Gesetze als
das gesprochene Schauspiel. Die realistische Sprache, die Sprache
des Alltags, sträubt sich gegen den Tonfall, den ihr die Musik auf¬
nötigt.
„Sagen Sie,
liebe Christine, haben Sie vielleicht
ein Zündholz?“ Den Erfolg errang nicht der Komponist,
sondern der Dichter. Das Tieftragische, die rührselige
Geschichte von der armen Christiane und dem armen Fritz
schlug kräftig durch. Nur fragte man sich immer: wozu die Musik?
Wozu diese Verzögerung? Die Aufführung war lobenswert.
Maria Labia fand für die Verzweiflung, für den tragischen Schluß
einen ergreifenden Ausdruck. Sobald diese aufechtbare Sängerin
schauspielerisch zu gestalten hat, steht sie auf der Höhe. Jean
Nadolovitch war ein ausgezeichneter Fritz, auch ihm liegt das
Pathos mehr, als der leichte Konversationston; so führte er den zweiten
Akt; so verhalf er ihm zu starker Wirkung. Eine geschlossene und
sehr sympathische Leistung bot Fräulein Susanne Bachrich als
Mizi Schlager; und neben ihr bestand mit Ehren Herr Richard
Wissiak als Theodor Kaiser. Die Herren Desider Zador und
Karl Armster als Haus Weiring und „ein Herr“ bewährten sich
wie gewöhnlich als reife und überlegene Künstler. Am Pulte saß
der treffliche Herr E. N. v. Rezuicek, und für die Inszenierung
hatte Herr Direktor Hans Gregor gesorgt. M. M.