Liebelej
5 „ box 12/6
Ausschnit aus: Tägliche Rundschau, Berile
12 APRlL 1913
Theater und Musik.
Sentrtche
Sondervorstellung.
Es war ein kleines Doppelfest der Wohltätigkeit und der
Schauspielkunst. Der „Frauenverein vom Roten Kreuz
für die Kolonien“, der unter dem Protektorat der Kaiserin
steht, ließ auf der Bühne des Theaters am Nollendorfplatz
Schnitzlers unverwüstliche „Liebelei“ in einer auserlesenen
oder mindestens doch sehr reizvoll zusammengelesenen Be¬
setzung aufführen. Das Seltene gesellte sich zum sehr Tüchti¬
gen, Literaturbühne und Operette stellten Vertreter, und wenn
daraus keine völlig organische Einheit werden konnte, so hatte
der Abend doch, außer den künstlerischen Einzelwerten, als
Ganzes den Sonderreiz der Einmal# leit.
Agnes Sorma, die sich seit nun wohl drei Jahren den
Berlinern entzog, und der Berliner Oeffentlichkeit scheint's noch
länger fernbleiben will, gab die empfindsume Christine und
weckte damit manche wunderschöne Theatererinnerung auf.
In diesem selben Hause (das jetzt der Operette dient) sahen
wir die Sorma bei ihrem letzten öffentlichen Berliner Auf¬
treten aus einem gar nicht reichen Kulissenstück eines Pariser
Rothschild hervor eine gefühlsreiche Frauengestalt schaffen.
Zwei Jahre vorher ergriff uns im Münchener Künstlertheater
ihre unnachahmliche Frau Alving, die schlichte und holdeste
Verkörperung der schmerzenreichen Mutter aus Ibsens
„Mythos“. Vor nun fast zehn Jahren rief uns ein Frank¬
Sorma (eines von ihren
furter Gastspiel der
die
unvergeßliche
allzu vielen Rundreisegastspielen)
Sorma=Kainz=Zeit des Deutschen Theaters zurück. Es
den Eindruck, daß ihre Christine
gab uns u. a.
Weiring seit der sieghaften Erstaufführung der „Liebelei“ im
Deutschen Theater, die damals erst sieben Jahre hinter uns
81
lag, etwas von ihrem lyrischen Schmelz verloren, doch die volle
Hingabe der Künstlerin an die Mädchengestalt bewahrt habe.
Die allerjüngste Wiederkehr der Christine=Agnes hatte eher
mehr als weniger von jenem ersten Zauber, doch war diesmal
natürlich mehr Kunst im Spiel. Es gab da ein paar unver¬
mittelte Uebergänge, ein paar allzu sichere Kontrastwirkungen,
aber der Liebreiz im Lächeln, in der warmen Stimme, in der
Schmiegsamkeit der wenig voller gewordenen Gestalt waren
noch lebendig zur Stelle. Die Sorma darf die Christinc noch
immer spielen. Aber sie sollte uns mit ihrer ganzen, uner¬
setzten, reifen Kunst neue Gestalten gönnen, die dem Gesichts¬
kreis des Wiener Mädels entrückt sind, aber darum wirklich
nicht weniger Reizvolles zu bedeuten brauchen!
Daß Pallenberg viel mehr als einen Operetten¬
komiker in sich hat, spürte man schon an seinem köstlichen Trottel
Menelaus. Das Rührende dieser Figur ließ er nun geläntert
dem alten Weiring zuteil werden. Eine Leistung voll Schlicht¬
heit und hübschen Einzelzügen: bloß in der Hilflosigkeit am
Schluß ward der Menelaus hie und da sichtbar.
Durch eine zu stark „denkende“, aber im Stimmung¬
künstlerischen sehr feine Regie (Herr Zayrel) waren die
harmlos komischen Episodenfiguren, die Fritzi Massary und
Karl Pfann (stellenweise schwer verständlich) übernommen
atten, ins Gedankenvolle verpflanz##worden. Das beeinträch¬
te die Wirkung. Kurt Stieler war ein in jeder Hinsicht
iner Held Fritz, Rosa Valetti einz drastische und doch
natürliche Gevatterin Strumpfwirkerin# Franz Blei gab
den fremden Herrn mit einem erstaunlich raffinierten Blick¬
versenden nur in den paar Tönen des Aufbrausens verriet
sich, daß er doch wohl mehr Schriftsteller als Schauspieler ist.
illy Rath.
eu, Poroite.
Aeianpape
SERL. NER TAOBLATT
Ausschnitt aus:
vom:
12 AFhll 1913
1
—
Tiebelei als Liebesgabe.
Theater am Rollendorfplatz. Zu Gunsten des deutschen Srauen
vereins vom Roten Kreuz für die Kolonien:
„Tiebeler“ Schauspiel in 3 Akten von Arthur Schnitzler.
P. S. Seit der Beriner Urauführung vost Arthlr S
„Liebelei“ sind siebzehn Jahre vergangen. Nicht ganz so lange braucht
ein Wiener Mädel, um „süß“ und liebeleifähig zu werden. Damals,
am 4. Februar 1896, als per Wiener Dichter für Berlin entdeckt wurde,
gab Frau Agnes Sorma jene Christine, die Liebelei für Liebe
hält und mitten an der Tafel des Leichtsinns und der Lebenslust
daran zugrunde geht. Dieselbe Christine ward auch gestern von der¬
selben Frau Agnes Sorma gegeben. Ein rührendes Wiedersehen
unter der Devise: „Alte Liebe rostet nicht. Ich wiederhole meine
Eindrücke von damals: In Frau Sorma erhielt die Gestalt Elegie.“
Seit den Zeiten ihrer ersten holden Jugend hat uns diese Schauspielerin
nicht wieder so innig angesprochen; daß sie dabei zur Seele gesprochen
hat, ist ein Ergebnis ihrer gereiften und bereicherten Kunst. Man
hat sie zu vornehm gefunden. Innerlich kann diese Luise Millerin
der Wiener Vorstadtdachstube gar nicht vornehm genug sein; äußer¬
lich war es entzückend, wie scheu und schamhaft der Schalk aus der
kleinen Schwärmerin hervorlugte. Wie dann aus diesen tiefen,
dunklen, bangen Augen das Schicksal widerleuchtete, war tief ergrei¬
send. Christine, die sonst so Wortkarge, ist im Unglück sehr ge¬
sprächig. Für jeden Vorwurf. für jede Vergegenwärtigung ihrer.
Lage findet sie ein passendes Wort. Sie hat zu lange geschwiegen,
um nun nicht sprechen können. Diesen seelischen Prozeß schauspiele¬
risch zu begründen, kann nicht leicht sein. Frau Sorma war gerade
hier am bedeutendsten; als Ahnung zur Gewißheit wird,
als das liebliche Gesicht leichenhaft erstarrt, stand das Ge¬
bärdenspiel auf der Dusehöhe. — So las man es vor siebzehn
Jahren, und eine dankbare Erinnerung sorgt dafür, daß sich die neuen
Eindrücke an die alten knüpfen, zumal da sich Frau Sorma ihre
geschmeidige Gestalt, ihr redendes Auge und auch das Silberglöckchen
erhalten hat, das in der heiteren und ruhigen Stimme klingt. Im
dritten Akt, der die Tragik bringt, scheint sie jetzt weniger durch den
Text des Dichters, als pantomimisch zu wirken. Ganz wichtige
Worte verstand man nicht.
Christinens Vater gab Herr Pallenberg als rührendes Vor
stadtidealistchen mit einem unschuldigen Totenkopfgesichtchen. Wi
ihn der Schmerz der Tochter mitnimmt, war sehr ergreifend.
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Ausschnit aus: Tägliche Rundschau, Berile
12 APRlL 1913
Theater und Musik.
Sentrtche
Sondervorstellung.
Es war ein kleines Doppelfest der Wohltätigkeit und der
Schauspielkunst. Der „Frauenverein vom Roten Kreuz
für die Kolonien“, der unter dem Protektorat der Kaiserin
steht, ließ auf der Bühne des Theaters am Nollendorfplatz
Schnitzlers unverwüstliche „Liebelei“ in einer auserlesenen
oder mindestens doch sehr reizvoll zusammengelesenen Be¬
setzung aufführen. Das Seltene gesellte sich zum sehr Tüchti¬
gen, Literaturbühne und Operette stellten Vertreter, und wenn
daraus keine völlig organische Einheit werden konnte, so hatte
der Abend doch, außer den künstlerischen Einzelwerten, als
Ganzes den Sonderreiz der Einmal# leit.
Agnes Sorma, die sich seit nun wohl drei Jahren den
Berlinern entzog, und der Berliner Oeffentlichkeit scheint's noch
länger fernbleiben will, gab die empfindsume Christine und
weckte damit manche wunderschöne Theatererinnerung auf.
In diesem selben Hause (das jetzt der Operette dient) sahen
wir die Sorma bei ihrem letzten öffentlichen Berliner Auf¬
treten aus einem gar nicht reichen Kulissenstück eines Pariser
Rothschild hervor eine gefühlsreiche Frauengestalt schaffen.
Zwei Jahre vorher ergriff uns im Münchener Künstlertheater
ihre unnachahmliche Frau Alving, die schlichte und holdeste
Verkörperung der schmerzenreichen Mutter aus Ibsens
„Mythos“. Vor nun fast zehn Jahren rief uns ein Frank¬
Sorma (eines von ihren
furter Gastspiel der
die
unvergeßliche
allzu vielen Rundreisegastspielen)
Sorma=Kainz=Zeit des Deutschen Theaters zurück. Es
den Eindruck, daß ihre Christine
gab uns u. a.
Weiring seit der sieghaften Erstaufführung der „Liebelei“ im
Deutschen Theater, die damals erst sieben Jahre hinter uns
81
lag, etwas von ihrem lyrischen Schmelz verloren, doch die volle
Hingabe der Künstlerin an die Mädchengestalt bewahrt habe.
Die allerjüngste Wiederkehr der Christine=Agnes hatte eher
mehr als weniger von jenem ersten Zauber, doch war diesmal
natürlich mehr Kunst im Spiel. Es gab da ein paar unver¬
mittelte Uebergänge, ein paar allzu sichere Kontrastwirkungen,
aber der Liebreiz im Lächeln, in der warmen Stimme, in der
Schmiegsamkeit der wenig voller gewordenen Gestalt waren
noch lebendig zur Stelle. Die Sorma darf die Christinc noch
immer spielen. Aber sie sollte uns mit ihrer ganzen, uner¬
setzten, reifen Kunst neue Gestalten gönnen, die dem Gesichts¬
kreis des Wiener Mädels entrückt sind, aber darum wirklich
nicht weniger Reizvolles zu bedeuten brauchen!
Daß Pallenberg viel mehr als einen Operetten¬
komiker in sich hat, spürte man schon an seinem köstlichen Trottel
Menelaus. Das Rührende dieser Figur ließ er nun geläntert
dem alten Weiring zuteil werden. Eine Leistung voll Schlicht¬
heit und hübschen Einzelzügen: bloß in der Hilflosigkeit am
Schluß ward der Menelaus hie und da sichtbar.
Durch eine zu stark „denkende“, aber im Stimmung¬
künstlerischen sehr feine Regie (Herr Zayrel) waren die
harmlos komischen Episodenfiguren, die Fritzi Massary und
Karl Pfann (stellenweise schwer verständlich) übernommen
atten, ins Gedankenvolle verpflanz##worden. Das beeinträch¬
te die Wirkung. Kurt Stieler war ein in jeder Hinsicht
iner Held Fritz, Rosa Valetti einz drastische und doch
natürliche Gevatterin Strumpfwirkerin# Franz Blei gab
den fremden Herrn mit einem erstaunlich raffinierten Blick¬
versenden nur in den paar Tönen des Aufbrausens verriet
sich, daß er doch wohl mehr Schriftsteller als Schauspieler ist.
illy Rath.
eu, Poroite.
Aeianpape
SERL. NER TAOBLATT
Ausschnitt aus:
vom:
12 AFhll 1913
1
—
Tiebelei als Liebesgabe.
Theater am Rollendorfplatz. Zu Gunsten des deutschen Srauen
vereins vom Roten Kreuz für die Kolonien:
„Tiebeler“ Schauspiel in 3 Akten von Arthur Schnitzler.
P. S. Seit der Beriner Urauführung vost Arthlr S
„Liebelei“ sind siebzehn Jahre vergangen. Nicht ganz so lange braucht
ein Wiener Mädel, um „süß“ und liebeleifähig zu werden. Damals,
am 4. Februar 1896, als per Wiener Dichter für Berlin entdeckt wurde,
gab Frau Agnes Sorma jene Christine, die Liebelei für Liebe
hält und mitten an der Tafel des Leichtsinns und der Lebenslust
daran zugrunde geht. Dieselbe Christine ward auch gestern von der¬
selben Frau Agnes Sorma gegeben. Ein rührendes Wiedersehen
unter der Devise: „Alte Liebe rostet nicht. Ich wiederhole meine
Eindrücke von damals: In Frau Sorma erhielt die Gestalt Elegie.“
Seit den Zeiten ihrer ersten holden Jugend hat uns diese Schauspielerin
nicht wieder so innig angesprochen; daß sie dabei zur Seele gesprochen
hat, ist ein Ergebnis ihrer gereiften und bereicherten Kunst. Man
hat sie zu vornehm gefunden. Innerlich kann diese Luise Millerin
der Wiener Vorstadtdachstube gar nicht vornehm genug sein; äußer¬
lich war es entzückend, wie scheu und schamhaft der Schalk aus der
kleinen Schwärmerin hervorlugte. Wie dann aus diesen tiefen,
dunklen, bangen Augen das Schicksal widerleuchtete, war tief ergrei¬
send. Christine, die sonst so Wortkarge, ist im Unglück sehr ge¬
sprächig. Für jeden Vorwurf. für jede Vergegenwärtigung ihrer.
Lage findet sie ein passendes Wort. Sie hat zu lange geschwiegen,
um nun nicht sprechen können. Diesen seelischen Prozeß schauspiele¬
risch zu begründen, kann nicht leicht sein. Frau Sorma war gerade
hier am bedeutendsten; als Ahnung zur Gewißheit wird,
als das liebliche Gesicht leichenhaft erstarrt, stand das Ge¬
bärdenspiel auf der Dusehöhe. — So las man es vor siebzehn
Jahren, und eine dankbare Erinnerung sorgt dafür, daß sich die neuen
Eindrücke an die alten knüpfen, zumal da sich Frau Sorma ihre
geschmeidige Gestalt, ihr redendes Auge und auch das Silberglöckchen
erhalten hat, das in der heiteren und ruhigen Stimme klingt. Im
dritten Akt, der die Tragik bringt, scheint sie jetzt weniger durch den
Text des Dichters, als pantomimisch zu wirken. Ganz wichtige
Worte verstand man nicht.
Christinens Vater gab Herr Pallenberg als rührendes Vor
stadtidealistchen mit einem unschuldigen Totenkopfgesichtchen. Wi
ihn der Schmerz der Tochter mitnimmt, war sehr ergreifend.