II, Theaterstücke 5, Liebelei. Schauspiel in drei Akten, Seite 1546

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Liebele
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Dr. Max Goldschmidt
Büro für Zeitungsausschnitte
BERLIN N 4
Teleion: Norden 3951
Ausschntit aus:
Königsberger Allgemeine Zeitung
28. Nov. 188.
Neues Schauspielhaus.
Bastspiel Lucie Mannheim in Schnitzlers „Liebelei“.
Vor etwa einem Jahrzehnt machte Lucie Mannheim da¬
mals noch „ein“ Fräulein Mannheim, an unserem Neuen Schau¬
spielhaus unter Leopold Jessners Anleitung ihre ersten schüchternen
Gehversuche auf den weltbedeutenden Brettern. „Erste“ Rollen im rein
numerischen Sinne (erstes Bürgermädchen usw.) wurden ihr damals
zunächst anvertraut. Doch die bühnensichere und zugleich untheatralische
Art, wie sie sie durchführte, ließ bereits aufhorchen. Das neuentdeckte,
blutjunge Talent erhielt bald sorgsame Pflege und zweckmäßige Nahrung,
vor allem durch Julius Bab, den damaligen verständnisvollen Spielleiter.
Und es bildete sich in der Stille, wuchs mit seinen höheren Zwecken.
In der Besprechung einer „Gabriel=Borkmann“=Aufführung, am
30. April 1917, vermerkte der Kritiker der „Allgemeinen“: „Fräulein
Mannheim als Frida Foldal verdarb nichts.“ Dies Nichts war immer¬
hin etwas. Bald darauf, im wunderschönen Monat Mai, konnte der
Unterzeichnete feststellen, daß Lucie Mannheim „das geborene Hannele
ist“, ja „eins der denkbar besten Hanneles überhaupt“. Damit war die
erste Sprosse zur Ruhmesleiter erklommen. Und nun ging's im raschen
Aufstieg vorwärts. Hedwig, die kleine Wildentenmutter folgte und noch
manche aparte reizvolle Schöpfung, mit der sich Lucie mehr und mehr in
den Vordergrund des Interesses spielte. Man merkte: das ist keine
landläufige „Naive“, sondern ein Stück Natur, ein zartes, aber keim¬
trächtiges Bäumchen, das mit den Wurzeln im gesunden Nährboden ur¬
sprünglicher Gestaltungskraft steckt und mit der Krone in den Himmel
reinen Menschentums ragt. Das Ausmaß und die erstaunliche Viel¬
seitigkeit dieser Begabung verführte die Hochmögenden des Schauspiel¬
hauses zu einem Wagnis: man gab Lucie Mannheim Wedekinds Lulu.
Das Experiment mißlang — es mußte mißlingen, weil „die kleine
Mannheim“ eben noch nicht reif war für solche komplizierten Gestalten.
Die Scharte ward durch neue hervorragende Leistungen bald ausgewetzt.
Andere, passendere Aufgaben brachten die frühe Knospe zu herrlicher
Entfaltung, und schließlich brachte Bab sie nach der Berliner Volks¬
bühne, wohin er als Dramaturg berufen wurde und von wo Leopold
Jessner sie zuguterletzt an seine Staatstheater holte.
Als Mitglied des Staatstheaters, als großer Gast, als „die“
Mannheim ist die kleine Lucie nun wieder nach Königsberg gekommen.
Und ihr Auftreten an der alten, nur räumlich verlegten Wirkungsstätte
erwies, daß inzwischen alle Blütenträume von einst gereift sind. Ihre
Gastrolle, die Christine in Schnitzlers „Liebelei“, erfordert vor
allem eins: schlichte, ungesuchte Natürlichkeit. Daß Lucie
Mannheim die hat, weiß man von früher. Aber zur Schlichtheit ihrer
äußeren Gebärde gesellt sich jetzt noch eine seelische Einfachheit, eine
Verinnerlichung, die auch dem abgehärtetsten Theaterbesucher die Tränen
in die Augen treiben kann. Die Christine der Mannheim ist ein
wandelndes Volkslied, ein Adagio in Moll — im betonten Gegensatz
zur Scherzo=Munterkeit der lebenslustigen Mizzi. Diese Schlager=Mizzi
ist das kypische Wiener süße Mädel — Christine eher das Nähmädel mit
den zerstochenen Fingern, dessen „kleine Welt“ Anatol in den „Weih¬
nachtseinkäufen“ so anziehend schildert: das anspruchslose, liebe Geschöpf,
das tagaus, tagein in seinem dämmrigen Zimmer sitzt und die bescheidenen
Freuden der Vorstadt genießt, wenn's Abend wird, auf die im Dunkel
Tragen Sie unsere
Augengläser

und Sie sind zufrieden.
TESchlOcsser, Junkerstraße 8

versinkenden Dächer und Rauchfänge hinaussieht und wenn der Frühling
kommt, auf den blühenden, duftenden Garten; das sich ergeben in sein Los
schickt und nichts anderes bedeuten will in der Welt, als was es eben ist
und ein kleines Zufallsglück wie ein großes Geschenk mit dankbarer In¬
brunst ans Herz drückt. All' dies was zu dem Begriff „Christine“ gehört,
vermittelt Lucie Mannheims Gestaltung so intensiv, daß man ihre ganze
Umwelt zu sehen vermeint, auch wenn ein fremdes Milieu sie umg.bt.
Ein Schatten von dumpfer Schwermut und schmerzlicher Resignation
liegt von Anbeginn über diesem ahnungsvollen Engel — zugleich die Tau¬
frische und der Knospenreiz des kaum erwachten, innerlich keuschen,
jungen Weibes, dem Gefühl alles ist, das dies Gefühl nicht teilen kann
und dem einen geliebten Manne darbringt, in klarer Erkenntnis, daß
ihm kein Gegenwert geboten und der schöne Traum eines Tages aus
sein wird.
Am erstaunlichsten, mit welch' einfachen Mitteln die Mannheim
diese Wirkungen erzielt. Sie spricht völlig so, wie man im Leben spricht
oder wie man sich ein Mädchen aus dem Volke mit einer hoffnungslosen
Liebe im He##en sprechen denkt: ruhig, überiegt, selbst im Affekt ohne
scharfe Akzente — meist mit einer leisen, etwas müden Monotonie, die
erraten läßt, welches Leid sie im Herzen verschließt. Auch ihr Tempera¬
mentsausbruch bei der Todesnachricht ist frei von jedem „Theater“, wie ihr
ganzes Spiel von falscher Sentimentalität. Diese Verzweiflungsschreie
kommen aus der Seele — nicht nur aus der Kehle. Bis auf zwei,
drei wuchtige Gefühlsentladungen alles gedämpft, ausgespart, ohne hyste¬
rische Krampfigkeit — piano, con sordini, und doch klingen die Zwischen¬
Ober= und Untertöne der Herzensmelodie deutlich an. Dabei scheint ihr
ganzes Wesen im Grunde ein einziger unterdrückter Schrei...
Man muß Dr. Fritz Jeßner aufrichtig dankbar sein, daß er
seine ehemalige Kollegin zu diesem künstlerisch so überaus ertragreichen
Gastspiel verpflichtele — doppelt dankbar, weil er uns damit zugleich den
langentbehrten Genuß des wundervollen Schnitzlerschen Volksstücks (das
ist wohl der richtige Name) verschaffte. Mit innigstem Behagen fühlte
und dachte man sich wieder einmal in diese bezaubernde, melancholisch¬
genießerische Anatol=Welt hinein — das Schnitzlersche Wien liegt ja stets
in Anatolien —, um so mehr, als die Spielleitung Max Webers (Regie¬
debüt?) nichts verabsäumt hatte, um ihr, soweit das an norddeutschen
Bühnen möglich ist, szenisch wie darstellerisch den nötigen Stimmungs¬
und Milieureiz zu geben. Die kostümliche Rückdatierung bis in die
Entstehungszeit des Stücks, die das Publikum wiederholt zum Lachen
ceizte und Frl. Sandreczki zwang, ihren netten Bubikopf durch eine
altmodische Frisur zu verschandeln — dieser Hypernaturalismus war
freilich u. E. nicht unbedingt notwendig. Ein paar Textretuschen hätten
genügt, um den Unterschied zwischen 1894 und 1927 auszugleichen. Im
allgemeinen könnte das alles sich heute genau so abspielen wie Anno
dunnemals. Sonst hatte die Aufführung Stil und Format. Fritz, dem dop¬
pelten Liebhaber mit dem halben Herzen, gab Rudolf Blaeß die sata¬
listisch=weltmännische Gäste des Anatol=Menschen. Seinen Freund
Theodor faßte Kurt Hoffmann etwas herber an, als man ihn zu sehen
gewöhrt ist. In jedem Falle wurde es, wie stes bei Hoffmann, eine runde¬
Gestalt. Als Schlager=Mizzi wirkte Lili Sandreczki so flott und
liebenswürdig=leichtsinnig, als es ihr die tuntige Aufmachung erlaubte. Zu
einer feinen Studie geriet der verständnisvolle Vater Weiring, der moder¬
nere Nachfahr des alten Miller, Paul Lewitt. Annette
de Vries verspritzte wirksam das Gift der klatschsüchtigen Nachbarin.
Die Erscheinung des „Herrn“ warf in Wolf Benekendorffs über¬
ragender Gestalt einen drohenden Todesschatten über die heiteren Vor¬
gänge des ersten Akts. — Die heimliche Schubertmusik, das typisch Wiene¬
rische des Werks, wäre vielleicht durch stärkere Betonung des Mundart¬
lichen noch spürbarer geworden. Doch immerhin besser, ein Dialekt wird gar
nicht, als falsch gesprochen.
Alles in allem wieder ein Treffer unserer Kammerspielbehne. Die
schwere Tragödie mit dem leichtsinnigen Titel wurde lebendigste Wirklich¬
keit. Dazu ein volles Haus, Stimmung, Beifall in Hülle und Fülle. Sieht
das nach Krise und Erneuerungsbedürfnis aus?
Hans Wyneken,,