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„DAS FORUM“
V. Jahrg.
ständiges Hindernis für die Ueberprüfung des Urteiles
ist es auch diese Bahn, die uns vom Schneeberg mehr
von einer höhern Instanz abgeben sollte. Wenn man
zur Rax treibt, die übrigens der sonderbarste und
sagt, dass der zweiten Instanz nicht dasselbe Beweis¬
schönste Berg der ganzen Welt ist, Die Rax ist nämlich
material vorliegen würde, auf Grund dessen der erste
ein Berg, den man leichter begehen kann, als den
Richter seine Feststellungen machte, so ist dies in
Kahlenberg, und doch bietet sie wieder Schwierigkeiten,
gewissem Sinne und in gewissen Fällen deshalb richtig,
gegen die der Mönch und die Jungfrau mit all ihren
weil die zweite Instanz der Unmittelbarkeit entbehren
Zacken und Zinken das reinste Kinderspiel abgeben.
müsste. Aber die Unmittelbarkeit ist nur dort von
Und wenn selbst ein gewöhnlicher Tourist den
Wichtigkeit und Bedeutung, wo die Beweismittel logisch¬
Akademikersteig oder den Zimmermannssteig bewältigt,
psychologisch, nicht mechanisch-arithmetisch, (wie es die
so sage man nicht, dass das Wahnsinn sei, denn die
Regel ist) gewürdigt werden. Hat irgend ein Zeuge das
Besiegung der uns von der Natur aufgebauten Hinder¬
Anklagefaktum bestätigt, dann kräht kein Hahn mehr
nisse stählt die Nerven, und es ist wirklich ein Wonne¬
danach, wer dieser Zeuge ist, wie er aussagte, welches sein
gefühl, wenn man dem Tod ins Auge geschaut hat.
Verhältnis zum Angeklagten ist, ob letzterem gegenüber
Uebrigens hat man, wenn man so ein gefährliches
der Individualität des Zeugen denn doch eher zu glauben
Band nimmt, auch nicht die allergeringste Furcht, denn
ist, ob dieser Zeuge, trotz mangelnder Gründe für dessen
man denkt sich: „Na, was ist denn dabei, wenn man da
Nichtbeeidigung, dennoch unglaubwürdig sei etc. etc.
schon hinunterfällt und zerschellt? Tut sich was, der
Vielmehr hat heutzutage der erste beste Lump, wenn
Tod!?“ Herren und. Damen, die solchen Gefahren noch
er das Glück hat, ein Zeuge zu sein, dem anständigsten
nicht begegnet sind, können das nicht beurteilen; allein
Bürger gegenüber, der das Unglück hat, unter Anklage
sie sollen es nur ein einzigesmal probieren, sie werden
zu stehen, unbedingt Glauben, weil er ja ein — Zeugen
schon sehen. Und nicht allein unser Physicum, auch
ist, Ein etwaiger Widerspruch gegen die Beeidigung
unser Geist wird ganz anders. Man versuche einmal
z. B. aus Feindschaft, weil der Zeuge mit dem Ange¬
vom Erzherzog Otto-Schutzhause hinunterzuschauen!
klagten Prezesse führe, oder weil Angeklagtor gegen
Man sieht Edlach und Reichenau, und die Häuser sind
ihn einmal als Zeuge ausgesagt hatte, wird fast regel¬
so klein, und die Menschen kommen einem vor, als
mässig zurückgewiesen, weil derlei Sachen, heisst es
wären es Ameisen, und da denkt man sich: „Und diese
„nicht geeignet sind, eine Feindschaft im Sinne des
Ameisen haben so viel Sorgen! Und sie kränken und
Gesetzes zu begründen“ und weil — jetzt kommt das
befehden einander! Und es sind doch nur Ameisen¬
Beste — „übrigens der Zeuge hier bei Gericht befragt,
sorgen und Ameisenkränkungen und Ameisenbefehdun¬
ausdrücklich“ erklärte, er habe gar keine Feindschaft
gen, und alles ist eitel!“ Und so wird man nicht allein
gegen den Angeklagten! Jegliche Argumentation, sie mag
freier, man wird auch besser, menschlicher, gütiger,
noch so vernünftig lauten, kann eine einmal deponierte
todesfurchtlos.
Zeugenaussage nur äusserst selten abschwächen, oder
Und wenn die Menschlein wieder in die Ebene
gar zunichte machen. Bei dieser Art des in den meisten
hinunter wollen, und wenn sie dann von der Liebe
Fällen rein mechanischen Abhörens der Zeugen und
ergriffen werden, dann kommt eben eine andere
Sachverständigen, wonach alle diese Beweismittel im
Generation aus dem Schosse der „Mütter“ ans Licht
Urteile aufgezählt, also rein arithmetisch gewürdigt
hervor, und wenn wir der schönen Mädchen mit den
werden, ginge der II. Instanz höchstens verloren, das ##
kraftvollen Hüften und den runden Armen ansichtig
„Wie er sich räuspert und wie er spuckt“ des Zeugen,
werden, so wissen wir, woher sie das reizende Fleisch
sonst ist alles in den Akten und auf Grund dessen kann
und das mutige Auftreten haben. Alle, alle, die Töchter
ja auch die II. Instanz endgiltig, logisch-psychologisch
des Volkes, wie die Bürgermädchen und die Baronessen
und nach reichlicher Erfahrung feststellen, was als
und Komtessen. Und wir wissen auch, dass diese
erwiesen oder als nichterwiesen anzunehmen ist. Tut
Mädchen ihre ererbte Kraft noch stählen durch den
ja dasselbe auch der Kassationshof in den im vorigen
Sport, den sie spielend nehmen. Nun ja, Lawn-Tennis
Kapitel geschilderten Fällen, wenn er zur Ueberzeugung
pflegt das Volk nicht, aber es schwimmt, rudert und
gelangt, dass materiell ungerecht geurteilt wurde und
klettert und eilt ebenfalls in die Berge. Und nicht nur
wenn er sich dann an Scheinnichtigkeitsgründe an¬
im Frühling und Sommer, auch im Herbst und im
klammert. Nur muss er die Sache, zu nochmaligen Fest¬
Winter und bei jedem Wetter.
stellungen an die I. Instanz verweisen, obgleich er ja
Und diese Mädchen sind vielleicht auch deshalb
selber schon jetzt die Sache entschieden hat — aus den
todesfurchtlos, weil sie wissen, dass sie den Tod auch
Akten. Der Grundsatz also, dass nur das kraft der
bewältigen werden, wie etwa dié Schroffen des Wiener¬
Unmittelbarkeit des Verfahrens Festgestellte als un¬
neustädter Weges auf der „Max. Es gehört nur ein
erschütterliche Grundlage des Urteiles in unserem Straf¬
starker Wille dazu.
prozessverfahren Geltung hat, wird in erster Linie schon
von der II. Instanz selber manchmal durchbrochen.
Die Nichtigkeitsbeschwerde.
Kommt es aber zur zweiten, oder gar dritten Ver¬
handlung, dann haben wir wieder ein vollends anderes
V.*)
Bild. Das Beweismaterial spiegelt sich wieder in anderen
Es bleibt also eine Handvoll politischer Prozesse,
Köpfen ab. Die Mienen, Gesten und Bewegungen der
die vor die Jury gehören, wo die Wohltat der
Zeugen werden sich kaum so genau, wie bei der ersten
freien Beweiswürdigung herrscht. Mehr noch ist
Verhandlung, wiederholen. Wenn ein Zeuge bei der
es die Jury selbst, als diese Beweisart. Jetzt erst
ersten Verhandlung unsicher, zögernd und dunkel
sind wir in der Lage, den Wert der unanfecht¬
aussagte, wird er es gewiss, wohl schon mit dem Gegen¬
baren tatsächlichen Feststellungen als Ausfluss und
stande vertraut, ganz anders bei der zweiten einrichten.
Konsequenz der Struktur des Strafprozesses in seiner
Die Widersprüche, auf denen ein Zeuge bei der ersten
wichtigsten Funktion, d. i. in der freien Würdigung der
Verhandlung ertappt wurde, wird er wohl bei Jer
Beweise zu ermessen. Freilich ist dieser Wert sehr
zweiten vermeiden. Es gibt jetzt andere #ussagen,
problematisch und vollends nicht so gross, dass er ein
andere Kreuzfragen, andere Antworten, kurz ein anderes
1 Bild der Verhandlung, und die so ängstlich festgehaltene
*) Siehe „Forum“ Nr. 14, 15, 17 und 19 d. J.
„DAS FORUM“
V. Jahrg.
ständiges Hindernis für die Ueberprüfung des Urteiles
ist es auch diese Bahn, die uns vom Schneeberg mehr
von einer höhern Instanz abgeben sollte. Wenn man
zur Rax treibt, die übrigens der sonderbarste und
sagt, dass der zweiten Instanz nicht dasselbe Beweis¬
schönste Berg der ganzen Welt ist, Die Rax ist nämlich
material vorliegen würde, auf Grund dessen der erste
ein Berg, den man leichter begehen kann, als den
Richter seine Feststellungen machte, so ist dies in
Kahlenberg, und doch bietet sie wieder Schwierigkeiten,
gewissem Sinne und in gewissen Fällen deshalb richtig,
gegen die der Mönch und die Jungfrau mit all ihren
weil die zweite Instanz der Unmittelbarkeit entbehren
Zacken und Zinken das reinste Kinderspiel abgeben.
müsste. Aber die Unmittelbarkeit ist nur dort von
Und wenn selbst ein gewöhnlicher Tourist den
Wichtigkeit und Bedeutung, wo die Beweismittel logisch¬
Akademikersteig oder den Zimmermannssteig bewältigt,
psychologisch, nicht mechanisch-arithmetisch, (wie es die
so sage man nicht, dass das Wahnsinn sei, denn die
Regel ist) gewürdigt werden. Hat irgend ein Zeuge das
Besiegung der uns von der Natur aufgebauten Hinder¬
Anklagefaktum bestätigt, dann kräht kein Hahn mehr
nisse stählt die Nerven, und es ist wirklich ein Wonne¬
danach, wer dieser Zeuge ist, wie er aussagte, welches sein
gefühl, wenn man dem Tod ins Auge geschaut hat.
Verhältnis zum Angeklagten ist, ob letzterem gegenüber
Uebrigens hat man, wenn man so ein gefährliches
der Individualität des Zeugen denn doch eher zu glauben
Band nimmt, auch nicht die allergeringste Furcht, denn
ist, ob dieser Zeuge, trotz mangelnder Gründe für dessen
man denkt sich: „Na, was ist denn dabei, wenn man da
Nichtbeeidigung, dennoch unglaubwürdig sei etc. etc.
schon hinunterfällt und zerschellt? Tut sich was, der
Vielmehr hat heutzutage der erste beste Lump, wenn
Tod!?“ Herren und. Damen, die solchen Gefahren noch
er das Glück hat, ein Zeuge zu sein, dem anständigsten
nicht begegnet sind, können das nicht beurteilen; allein
Bürger gegenüber, der das Unglück hat, unter Anklage
sie sollen es nur ein einzigesmal probieren, sie werden
zu stehen, unbedingt Glauben, weil er ja ein — Zeugen
schon sehen. Und nicht allein unser Physicum, auch
ist, Ein etwaiger Widerspruch gegen die Beeidigung
unser Geist wird ganz anders. Man versuche einmal
z. B. aus Feindschaft, weil der Zeuge mit dem Ange¬
vom Erzherzog Otto-Schutzhause hinunterzuschauen!
klagten Prezesse führe, oder weil Angeklagtor gegen
Man sieht Edlach und Reichenau, und die Häuser sind
ihn einmal als Zeuge ausgesagt hatte, wird fast regel¬
so klein, und die Menschen kommen einem vor, als
mässig zurückgewiesen, weil derlei Sachen, heisst es
wären es Ameisen, und da denkt man sich: „Und diese
„nicht geeignet sind, eine Feindschaft im Sinne des
Ameisen haben so viel Sorgen! Und sie kränken und
Gesetzes zu begründen“ und weil — jetzt kommt das
befehden einander! Und es sind doch nur Ameisen¬
Beste — „übrigens der Zeuge hier bei Gericht befragt,
sorgen und Ameisenkränkungen und Ameisenbefehdun¬
ausdrücklich“ erklärte, er habe gar keine Feindschaft
gen, und alles ist eitel!“ Und so wird man nicht allein
gegen den Angeklagten! Jegliche Argumentation, sie mag
freier, man wird auch besser, menschlicher, gütiger,
noch so vernünftig lauten, kann eine einmal deponierte
todesfurchtlos.
Zeugenaussage nur äusserst selten abschwächen, oder
Und wenn die Menschlein wieder in die Ebene
gar zunichte machen. Bei dieser Art des in den meisten
hinunter wollen, und wenn sie dann von der Liebe
Fällen rein mechanischen Abhörens der Zeugen und
ergriffen werden, dann kommt eben eine andere
Sachverständigen, wonach alle diese Beweismittel im
Generation aus dem Schosse der „Mütter“ ans Licht
Urteile aufgezählt, also rein arithmetisch gewürdigt
hervor, und wenn wir der schönen Mädchen mit den
werden, ginge der II. Instanz höchstens verloren, das ##
kraftvollen Hüften und den runden Armen ansichtig
„Wie er sich räuspert und wie er spuckt“ des Zeugen,
werden, so wissen wir, woher sie das reizende Fleisch
sonst ist alles in den Akten und auf Grund dessen kann
und das mutige Auftreten haben. Alle, alle, die Töchter
ja auch die II. Instanz endgiltig, logisch-psychologisch
des Volkes, wie die Bürgermädchen und die Baronessen
und nach reichlicher Erfahrung feststellen, was als
und Komtessen. Und wir wissen auch, dass diese
erwiesen oder als nichterwiesen anzunehmen ist. Tut
Mädchen ihre ererbte Kraft noch stählen durch den
ja dasselbe auch der Kassationshof in den im vorigen
Sport, den sie spielend nehmen. Nun ja, Lawn-Tennis
Kapitel geschilderten Fällen, wenn er zur Ueberzeugung
pflegt das Volk nicht, aber es schwimmt, rudert und
gelangt, dass materiell ungerecht geurteilt wurde und
klettert und eilt ebenfalls in die Berge. Und nicht nur
wenn er sich dann an Scheinnichtigkeitsgründe an¬
im Frühling und Sommer, auch im Herbst und im
klammert. Nur muss er die Sache, zu nochmaligen Fest¬
Winter und bei jedem Wetter.
stellungen an die I. Instanz verweisen, obgleich er ja
Und diese Mädchen sind vielleicht auch deshalb
selber schon jetzt die Sache entschieden hat — aus den
todesfurchtlos, weil sie wissen, dass sie den Tod auch
Akten. Der Grundsatz also, dass nur das kraft der
bewältigen werden, wie etwa dié Schroffen des Wiener¬
Unmittelbarkeit des Verfahrens Festgestellte als un¬
neustädter Weges auf der „Max. Es gehört nur ein
erschütterliche Grundlage des Urteiles in unserem Straf¬
starker Wille dazu.
prozessverfahren Geltung hat, wird in erster Linie schon
von der II. Instanz selber manchmal durchbrochen.
Die Nichtigkeitsbeschwerde.
Kommt es aber zur zweiten, oder gar dritten Ver¬
handlung, dann haben wir wieder ein vollends anderes
V.*)
Bild. Das Beweismaterial spiegelt sich wieder in anderen
Es bleibt also eine Handvoll politischer Prozesse,
Köpfen ab. Die Mienen, Gesten und Bewegungen der
die vor die Jury gehören, wo die Wohltat der
Zeugen werden sich kaum so genau, wie bei der ersten
freien Beweiswürdigung herrscht. Mehr noch ist
Verhandlung, wiederholen. Wenn ein Zeuge bei der
es die Jury selbst, als diese Beweisart. Jetzt erst
ersten Verhandlung unsicher, zögernd und dunkel
sind wir in der Lage, den Wert der unanfecht¬
aussagte, wird er es gewiss, wohl schon mit dem Gegen¬
baren tatsächlichen Feststellungen als Ausfluss und
stande vertraut, ganz anders bei der zweiten einrichten.
Konsequenz der Struktur des Strafprozesses in seiner
Die Widersprüche, auf denen ein Zeuge bei der ersten
wichtigsten Funktion, d. i. in der freien Würdigung der
Verhandlung ertappt wurde, wird er wohl bei Jer
Beweise zu ermessen. Freilich ist dieser Wert sehr
zweiten vermeiden. Es gibt jetzt andere #ussagen,
problematisch und vollends nicht so gross, dass er ein
andere Kreuzfragen, andere Antworten, kurz ein anderes
1 Bild der Verhandlung, und die so ängstlich festgehaltene
*) Siehe „Forum“ Nr. 14, 15, 17 und 19 d. J.