II, Theaterstücke 4, (Anatol, 0), Anatol, Seite 3

box 7/3
Anatol
4. 1
Sieben Einakter, welche im Grunde genommen
alle dasselbe behandeln: die sexuelle Verkom¬
menheit der Gegenwart. Keine Handlung, keine
Charaktere von ausgesprochener Eigenart, son¬
dern laute gleiche, glatte, von dem modernen
Gesellschaftsfirnis übertünchte Typen: dafür aber
ein geistsprüllender natürlicher und packender
Dialog. Ich möchte diese Dichtungen am liebsten
dramatische Feuilletons nennen. Schnitzler —
Anatol ist ein Kranker; aber weil er ein Dichter
ist. hat er vor den anderen Kranken die Selbst¬
erkenntnis voraus. Mit einem eynischen Wohl¬
behagen legt er die eiternden Wunden blos
und lächelt dazu. Die „Moralischen“ werden
sich über das Buch öffentlich entrüsten, aber
heimlich werden sie es mit einer krankhaften
Gier lesen. Anatol ist ein Verfallsprodukt, das
Sterbelied einer abgelebten, dahinziechenden
Generation. Was sell uns eine solche P’oesie?
Die Kranken heilt sie nicht, sondern intiziert
nur die Gesunden. Merkt’'s doch endlich, ihr
Propheten der Zukunft, dass im Sturmeswehen
ein neuer Frühling anbricht und werft die wel¬
kenden Rosen beiseite, deren Duft Gift ist.
Damit soll uatürlich gegen Schnitzler kein Tadel
ausgesprochen werden. Der Kritiker hat nur
zu untersuchen, ob in einem Dichter eine Indi¬
vidualität steckt; und das ist hier gewiss der
Fall. Freilich wird diese Individualität vielen
nicht zusagen; aber wir alle, die wir wie
Thomas unsere Hände in die Wundmale der
Menschheit gelegt haben, drücken dem Autor
Die Lektüre hat mich
dankbar die Hand.
in ein nervöses Wohlbehagen eingelullt; ich
muss hinaus und die frische, gesunde Luft
einsangen, welche von den schneestarrenden
Gebirgshäuptern der Sudeten herniederwelt. —
Braunseifen Mähren Josef Schmid-Braunfels.
Bergfeuer. Evangelische Erzählungen von M. G.
Conrad. München. Dr. E. Albert & Co.,
München.
M. G. Conrad, der unermüdliche Vorkämpfer
für Wahrheit und Klarheit. hat sich in diesem
seinem letzten Werke eine hochbedentsame Auf¬
gabe gestellt, nämlich im Gewande der Trich¬
tung die Lehre des grossen Galiläers frei von
allen Schlacken und allem Ubersinnlichen der
modlernen Meuschheit wieder nahe zu bringen
und den unvergänglichen Kern auch für die
zu retten und geniessbar zu machen, die durch
den umhüllenden mystischen und dogmatischen
Formelkram der Botschaft des Evangeliums
längst entfremdet sind. Und Conrad tritt an
dliese schöne Aufgabe nicht nur mit heiligem
liebendem Eifer, sondern auch als echter Dichter
heran. Er verstcht es, die packendsten Momente
herauszugreiten und da, wo seine Quellen nur
Türftige Andeutunges geben, dennoch mit kühner
Phantasie und jener markigen und reichen Sprache,
die alle seine Werke auszeichnet. ergleifende
warm lebendige Bilder im Alfresco-Stil eines
Michel Angelo uns zu entwerfen. Das zeigt
sich vor allem in der „Am Brunnen“ betitelten
Erzählung, die uns Jesus und die Samariterin
vorführt. Die eigenen Worte des Galiläers
aber
gan
verl
hoffe
Br
„Dar
.5
Mnd
ril
v0
Lan
Hne
due
Pr.
Kagan
12 18,
6-Mae
Arthur Schnitzler gehört gleichfalls in die allererste Reihe
der hoffnungsvollen Jungösterreicher. „Anatol" (Berlin. Biblio¬
graphisches Bureau) legitimirt ihn: sieben einaktige Studien des
Fin-de-Siecle-Menschen, des aus Paris in die Atmosphäre des
Wienertums importirten.?Es sind echte und rechte Komödien, flott
voll Leben und geistreicher Einfälle, mit Menschen, die in kurzen,
knappen Strichen lebendig gezeichnet sind und wie Menschen sprechen:
Décadence, mit gesunder, frischer Realistik dargestellt. Wie prächtig
ist doch dieses „Abschiedssouper“ wie müßte das, natürlich von guten
Schauspielern gegeben, auf dem Theater wirken.D Das ist so das
Genre „Berliner Residenztheater“, wo die Strindberg gedeihen, wo
es freilich auch Menschendarsteller, wie Rittner und Vertens, giebt.
Schade, daß man Schnitzlers „Märchen“ ein in der seinen
Psychologik überaus interessantes Drama, das einige große Bühnen
längst zur Aufführung angenommen haben, noch immer nicht zu sehen
bekommt.