II, Theaterstücke 4, (Anatol, 0), Anatol, Seite 7

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Blätter für literarische Unterhaltung.
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pflicht? Und zweitens, wer über doppelten Treubruch mit
schönen Ausgestaltung, die Fulda dieser sinnreichen Erzäh¬
beschönigenden Allgemeinheiten oder vielsagendem Stammeln
lung gibt, hat nun seine Dichtung einen so greifbaren
wegkommt, wird im Wiederholungsfalle seine Selbständig¬
Werth und so unbesteei bare Vorzüge, daß sie als eine
wahrhafte Bereicherung unserer Bühnenliteratur zu be¬
keit auch gegen Mutterpflichten zu rechtfertigen wissen mit
trachten und zu beurügen ist.
den schon geläufigen Redensarten, wie: „Ich kann mich
durchaus verantworten — vor mir selber“ oder: „Gewiß!
In „Hanna Jagert“ will O. E. Hartleben (Nr. 5)
eine große, freie, edle Seele zeichnen. Das ist ihm un¬
Ja! Ich habe ein gutes Gewissen. Ein neues vielleicht,
leugbar in einzelnen Zügen gelungen, aber gerade nicht
aber. .. . Ja! — Und dies ist der Kampf mit dem alten.
nach der Seite hin, von der das Stück vornehmlich, ja
Damit muß ich fertig werden, ich wäre ja sonst. ... Nein!
fast ausschließlich die Heldin betrachtet, nämlich der Liebe
Es ist ja nur “ u. s. w. in abgerissenen Sätzen bis
in ihrer alles überwindenden und rechtfertigenden Kraft.
zur unwiderleglichen Selbstermuthigung: „Ich muß mir
Vorausschicken muß ich, daß das Verständniß der Idee
nur treu bleiben.“ Führwahr, eine bitterere Satire auf
des Dichters thatsächlich, wenn auch unnöthiger und kaum
das hohe Weib vermöchte kaum Strindberg zu schreiben.
noch statthafterweise erschwert wird durch freiwillige oder
Von dem Aufbau der Handlung will ich hier schweigen.
erzwungene Knappheit in der Charakteristik und Motivirung.
Läßt man Goethe's Seelendramen gelten, so kann auch ein
Ob und wie weit hier die Vorgeschichte des Stücks — seine
neuerer Dichter für sich das Recht in Anspruch nehmen,
Aufführung war polizeilich verboten — mitgewirkt hat,
äußere Geschehnisse zu ersetzen durch überzeugende Seelen¬
weiß ich nicht. Darf man solchen Einfluß annehmen, so
vorgänge, durch reiche Entfaltung und glaubwürdige Ent¬
würde sich z. B. das durch wortkarge Andeutungen eher
wickelung seiner Charaktere. Inwieweit das Hartleben er¬
gesteigerte als gelichtete Dunkel, das jetzt Hanna's Ver¬
reicht hat, ist oben an einigen Punkten gezeigt. Jeden¬
hältniß zu Dr. Könitz und seine Lösung unverständlich macht,
falls läßt sich die Einheit in der Heldin Charakter nur
leichter begreifer lassen. Unter demselben Belieben des
in einer zu des Dichters Absicht gegensätzlichen Auffassung
gewinnen.
Dichters leidet aber auch auffallend die endliche Lösung
durch die Vereinigung mit dem Freiherrn von Vernier.
Möge uns nun der Leser freundlich begleiten zur Be¬
Hier muthet meines Erachtens der Dichter seinem Publikum
trachtung eines andern Lustspiels, dessen Verfasser allem
Unmögliches zu. Gegen diesen Bräutigam ist ja wahr¬
Naturalismus abhold ist, zu Paul Heyse's „Unbe¬
haftig der Graf Appiani in „Emilia Galotti“ noch ein
schriebenem Blatt“ (Nr. 6). Eine freundliche Dichtung in
Ideal. Der ist doch wenigstens etwas mehr als nur hohler
reinlicher Ausführung, gibt es auch Wirklichkeit, wenn auch
Formenmensch. Wie kann dieses Weib, das nach des Dich¬
nicht gerade auf der Gasse aufgelesene Lächelnd entlarvt¬
#ters Absicht durchaus hoch= und dabei scharf denkend, ernst
der Dichter die bibelfeste Scheinheiligkeit, köstliche Komik,
und selbstbewußt erscheinen soll, noch dazu nach engen Be¬
wie erfahrungssichere Menschenkenntniß bietet er, wenn er
ziehungen zu charakterfesten, auch bedeutenden Männern,
Frau Blessing ihrer Freundin, der sie erst den Schwieger¬
einen solchen Seichtling lieben, als der der Vernier überall,
sohn entfremdet hat, am Schluß des Stücks, wo sie den¬
auch in seiner schwer auffassenden Naivetät erscheint? Das
selben Aurel für ihre Tochter als Mann gewinnt, fast
bleibt eine Unbegreiflichkeit, die des Verfassers ganze Aus¬
gotteslästerlich erklären läßt: „O liebe Julie, die Wege
der Vorsehung sind unerforschlich.“ Die starre Unwandel¬
führung über den Haufen wirft. Verstehe ich den Dichter
barkeit heuchlerischer Verlogenhit in diesem Charakter und
recht, so behauptet er das Recht des Herzens gegen eine
der vertrauensseligen Menschenunkenntnis in der Frau von
vernunftsgemäße, auf Achtung gegründete Einigung durch
gemeinsame, höhere Ziele, das Recht des Herzens gegen
Kaltern steht in fein erdachtem Gegensatz zum Neigungs¬
eine durch verehrende Dankbarkeit dietirte Verbindung.
wandel, der sich kreuzweise in den vier jugendlichen Ge¬
Jetzt kommt die höchste Steigerung in der reinen, wahren
stalten vollzieht. Dazu kommt eine Fülle aller Arten Witz
und Komik in Wort, Handlung und Situation, ein dichtes
Liebe, die sich eher zum Concubinat erniedrigt, als daß
sie den Schein unlauterer, ehrsüchtiger Berechnung auf sich
Gewebe von Fäden, die mit sicherer Hand zu einem künst¬
ladet. Aber hier versagt dem Dichter die beweisfähige
lerischen Durcheinander geordnet sind. Im Mittelpunkte
stehen die beiden Mädchengestalten: Hilde, die wohlerzogene
Gestaltungskraft: der Gegenstand solcher Liebe erscheint
Geheimrathstochter, im Geheimen aber Zola=lüsterne Eman¬
in keiner Weise ihrer Inbrunst würdig. Vielmehr ist die
cipirte, ihr gegenüber das unbeschriebene Blatt, Klara. An
Voraussage durchaus statthaft, daß die neugebackene Frei¬
ihnen erläutert der Dichter seine Beobachtungen und Ge¬
frau geb. Jagert in absehbarer Frist von neuem auf der
danken über die jetzige ungesunde Erziehung mit all ihrer
Suche nach „dem Rechten“ sein wird, genau so, wie eine
Unaufrichtigkeit, ihrer Verschrobenheit und ihrem Dünkel.
Standesgenossin von ihr in der Mitte unsers Jahrhunderts
In besonnenem Realismus verkörpert er in zwei Contrast¬
fast Zeit ihres Lebens. Einer derartigen Misdeutung und
Wandlung von Hanna's Charakter will der Dichter offen¬
figuren das Leben, wie es ist, wie es schult. Das Lust¬
bar vorbeugen durch die Einflechtung des süßen Geheim¬
spiel gestattet und fordert nun wol ein gewisses Uebermaß
nisses; damit verwirrt er aber nur seine Darlegungen noch
in der Charakterzeichnung; indessen, erscheint schon Hilda's
mehr. Was behält nun recht? Herzensneigung oder Mutter¬
Besuch bei dem Junggesellen gewagt, so ist die Voraus¬