II, Theaterstücke 4, (Anatol, 8), Anatol, Seite 10

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4.9. Anatol
für Zeitungsnachrichten
Wien, I.
Konkordiaplatz 4
4 DEZ 1910
Usterr. Volks Zeitung. Wie
Theater und Kunst.
Deutsches Volkstheater. Die Reihe von Ein¬
aktern unter dem Sammelstel „Anatole steht auf der
Schwolle von Aus Schnitzer jungem Dichter¬
runt, hat diesen Typus des Wiener Lebejünglings
Form und Inhalt und Geist von seinem Geiste gegeben.
Hat man früher nur das Wiener „Frücht!“ vom
Brillantengrund gekannt, etwa die Spezies Stolzenthaler,
die ihrer Duliästimmung beim Heurigen und picksüßen
Hölzl Ausdruck gibt — so hat Schnitzler diese Vorstadt¬
dandys umgeschaffen, sie nach der Innern Stadt versetzt,
dort wo die Chambres separées blühen und die Nacht¬
lokale locken. Diese Anatole sind von einer melancholischen
Lustigkeit, einer Lebensphilosophie, in deren Heiterkeit
sich stets einige Tropfen bitteren Nachgeschmackes mischen,
und einer Resignation des Genusses, die eigentlich eine
Kontradiktion ist. Ihm gesellt sich in der unverbrauchten
und unersättlichen Genußsucht das süße Mädl der Vor¬
stadt zu, der die Liebe Selbstzweck ist. An den fünf
Einaktern, die gestern aus dem Anatolzyklus aufgeführt
wurden („Die Frage an das Schicksal,
„Weihnachtseinkäufe", „Abschieds¬
souper, „Episode", „Anatols Hochzeits¬
morgen") hat man erkennen können, daß in diesen
Typen, wie sie Schnitzler gezeichnet, so viel Echtheit und
Bodenständigkeit liegt, daß sie bis heute nichts von der
Frische ihrer Farben eingebüßt und die Schlagkraft
des witzigen, mitunter geistreichen Dialogs sich un¬
geschwächt erhalten. Für den Haupt= und Titel¬
helden fand der Dichter in Herrn Kramer einen
Darsteller — einen bessern findet er nit. Herr Kramer
hat die für Anatol unerläßliche wienerische Note; dieses
Anatols Leichtsinn und Flatterhaftigkeit ist durchsättigt
von Ringstraßenluft — ein Taugenichts und Tagedieb
von einer entwaffnenden Liebenswürdigkeit, die alle diese
Untugenden als charmante Schwächen eines Löwen der
Boudoirs und Mansarden erscheinen läßt. Für die
robustere und von Zweifeln nicht geplagte Genußsucht des
Max fand Herr Lackner einen fein ironischen, über¬
egenen Ton, der eine sehr wirksame Folie dem Gegen¬
pieler bildete. Für die fünf weiblichen Rollen war der
ganze Damenflor dieses Theaters aufgeboten. Käthe
Hannemann, die hinreißende Christine in
desselben Autors „Liebelei", gab die hypnotisierte
Cora mit lächelnder Anmut; in „Weihnachtseinkäufe
zeigte Fräulein Reinau, daß sie nicht nur die
schicksten Toiletten trägt, sondern daß sie auch über einen
in seiner Natürlichkeit bestrickenden Plauderton verfügt,
der in ihr eine glänzende Vertreterin für flirtende
Salondamen vermuten läßt. Frau Glöckner setzt
(im Abschied souper) der Annie die heitersten Lichter
ihrer urwüchsig=wienerischen Begabung auf;
Paula
Müller spielt die Zirkusreiterin Bianca mit einer
drolligen Verlegenheitsmiene, die voll Komik steckt, und
Frau Galafrés entfaltet als Ilona alle Reize
ihrer
pikanten und prickelnden Darstellungskunst.
Artur
Schnitzler und seine Interpreten wurden wieder¬
holt stürmisch gerufen, und auch dem Regisseur Kramer
gebührt ein Wort vollen, uneingeschränkten Lobes.
T.
für Zeitungsnachrichten
Konkordiaplatz 4
1910
Deutsches Volkstheater.
„Anatol": Die Frage an das Schicksal. — Weihnachts¬
ginkäufe. — Abschiedsouper. — Episode. — Anatols, Hoch¬
zeitsmorgen, Fünf Einakter von Artur Schnitzler. (Erste
Aufführung im Deutschen Volkstheater am 6. Dezember 1910.
Es ist eine nette Absicht oder ein netter Zufall, daß
Artur Schnißlers „Anatol=Zyklus im Deutschen Volks¬
theater in die Nähe des „Jungen Medardus" gerückt wurde.
Man hat den Anfang und den am weitesten vorgeschobenen
Stand einer Entwicklungsreihe zum Vergleich beisammen:
man wird in dem geschlossenen Kreis der Schnitzlerschen
Gestalten zu der Betrachtung angeregt, wie die Männlich¬
keit in dem Lebenswerk dieses Dichters nur der variierte
oder gesteigerte oder vertiefte Anatoltypus ist. Diese
lohnende Studie soll uns heute nicht beschäftigen. Wohl
aber sei mit allem Nachdruck auf die durchwaltende Ein¬
heit im Schnitzlerschen Schaffen gewiesen, die als das
lebendigste Zeichen innerlich vollkommener Dichter gilt.
Auch führen uns die Anatolszenen die bemerkenswerte Er¬
scheinung in den Sinn, daß Schnitzlers Kunst gleich in dem
ersten Werk, wie immer sich auch später die Probleme ver¬
dichten und verwickeln mögen, die Anschauung einer ge¬
festigten dichterischen Persönlichkeit und einer bereits
sicheren Technik gibt. Ein leiser Pessimismus, der so
graziös gefaßt wird, daß man ihn für eine optimistische
Weltansicht der Gleichgültigkeit halten könnte — zumal in
der Schnitzlerschen Welt der Oberflächen sich der wahre
Pessimismus gar nicht verankern kann — ist im „Anatol
so deutlich wie in den folgenden Perioden des Dichters aus¬
gesprochen. Und die klassische Form für den Ausdruck
dieser schwebenden Lebensphilosophie liegt in dem meister¬
haften Dialog der Anatolszenen schon vollendet vor. Sind
diese Stücke auch nicht Theaterspiel, sondern nur An¬
spielungen aufs Theater, und sind sie nur als flüchtige
Symbole des Dramas zu erkennen, so verlocki doch eben
der kunstreiche, zartgegliederte Dialog noch heute, zwanzig
Jahre nach der Entstehung des „Anatol“, die Darsteller,
ihre Gewandtheit an einer Charakterisierung zu versuchen,
die nahezu allein durch das bewegliche Wort hervorzurufen
ist. Die ästhetische Kraft dieser Szenen, die trotz ihrer
leichten Webearbeit oder gerade deshalb uns selbst über
die ethische Bodenlosigkeit im Fluge hinwegheben, wirkt
noch fort; der Naturalismus, der Symbolismus, die Neu¬
romantik und alle andern Ausstrahlungen bis zum dra¬
matischen Nihilismus unsrer Tage konnten die Reize dieser
fühligen, anmutig beschwingten Kunst nicht zerstören. Das
Geheimnis dieser angenehmen Erscheinung liegt vielleicht in
den romanischen Quellen, des Anatole und in ihrer ali¬
lichen Vereinigung mit wienerischen Zügen, denen die an¬
geborne Grazie den Vorzug gibt, sich auch durch schroffe
Literaturen fortzuschlängeln. Im Takte der leichten Pulse
entwirren, sie das schwerste und lästigste Treiben und
schmiegen uns an geistige Freuden.
Zum erstenmal befaßt sich das Deutsche Volks¬
theater mit Anatol, dem Herr Jarno vor geraumer Zeit
schon viele Erfolge bereitet hatte. Aber die Erstaufführung
von fünf Teilen aus dem Anatolkreise ist im Volkstheater
jetzt umso interessanter, als heute nicht bloß anders
gedichtet, sondern auch anders gelebt wird. Wirklich haben
die Szenen nun mehr als Kunstwerke denn als soziale
Dokumente das Publikum gefesselt. Das tiefe psychologische
Moment, das nicht aus der mitarbeitenden Zeit begriffen
werden muß, das allgemein Menschliche trat in jeder
Szene stärker hervor als vor Jahren, da die originalen
Anatole noch munter mit uns lebten und in Schnitzlers
Dichtung wie in einen Spiegel schauten. Für die geist¬
bewegte künstlerische Führung der einzelnen Stücke war
die Teilnahme im Deutschen Volkstheater so lebhaft und
frisch, als ob uns die geschickten Wendungen zum ersten¬
mal verblüfften. Das ist eine vollgültige Bekräftigung
dauernder Werte.
Gleichwohl ist das Wesen Kramers — es war ja
im Grunde ein Kramerzyklus — für die Halbgefühle und
Wanderliebe des jungen Anatol schon ein wenig zu se߬
haft; an seiner Rede hängen Gewichte, und von dem
leichtsinnigen Melancholier" als den sich Anatol selbst