II, Theaterstücke 4, (Anatol, 8), Anatol, Seite 136

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4.9. Anatol - Zyklus
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Die Berliner Bühnen. 227
Winter bei Reinhardts Vorführung von
wenigstens noch rauchen dürfte wie im
Variété. Dann hätten sie doch ihren Stempel. Freksas „Sumurun" gesehen. (Ein Tri¬
Daß das Spezialitätentheater eine ge= umph der drei Geschwister Wiesenthal;
schade, daß zwei von ihnen mit ihrer ganz
fährliche Konkurrenz für die literarischen
verfehlten Kammerspiel=Darbietung
Bühnen geworden ist, erkannte man längst.
November, dem albernen „Scherzo“, dem
Rudolf Schildkraut, der stilechte Shylock
künstlerischen Ruf ihrer liebenswürdigen
der Schumannstraße, trat in einem spektaku¬
Firma geschadet haben.) Das Publikum
lösen Stückchen im Apollotheater auf. Mit
Man denke; ein will sehen, sehen, sehen, miterleben. Es
einem Bombenerfolg.
kann ja sogar ge¬
Mann wird wahn¬
packt werden von
sinnig auf der
einem Spiel in
Szene! Schildkraut
fremder Sprache,
schwitzte dabei min¬
die es nicht ver¬
destens so stark wie
steht. Die tiefsin¬
der Akrobat, der
nigsten Dialoge
die Nummer vor
schenkt es dem Au¬
ihm hatte. Im Va¬
tor für einen ein¬
riété will man für
zigen großen Mo¬
sein Geld sehen,
ment in der dra¬
daß die Leute sich
matischen Entwick¬
anstrengen. Und für
lung: wo Furcht
die etwas kulissen=
und Mitleid das
reißerische Art
Herz bewegen, wo
Schildkraut ist an
es die Explosion
einem solchen Spe¬
eines berechtigten
zialitätenabend ein
Hasses erlebt, die
guter Rahmen ge¬
Angst eines lieben¬
schaffen.
den Herzens, wo
Aber daß die
in geknechteter
hohen Gagen, die
Seele sich ein Stolz
am Variété üblich
aufbäumt.
sind, die Bühnen¬
Die großen Wir¬
künstler zu dersel¬
kungen will das
ben Massenflucht
Publikum. Und die
aus den literari¬
Dramatiker sollten
schen Theatern ver¬
sich endlich besin¬
leiten könnten, wie
nen, sollten endlich
sie beim Publikum
wieder den Mut
wahrzunehmen ist,
zu einer starken
das braucht man
finden.
Handlung
Else Heims als Desdemona in der Othello¬
nicht ernstlich
Aufführung des Deutschen Theaters.
sie mit
Wenn
befürchten. Eher
Photographie von Becker & Maaß in Berlin.
feingeschliffenem
schnappt ihnen das
Seziermesser Nervenstränge bloßlegen wol¬
Kino die guten Kräfte und das Publikum fort.
len, dann können sie nicht auf das Interesse
Das Kino!
von Millionen rechnen. Müssen sie durch
Für fünf Groschen erlebt das Publikum
aus ihre zartesten, tiefsten Leiden beschrei¬
dort drei spannende Theaterstücke, ein paar
ben, dann sollen sie keine Dramen ver¬
groteske Verfolgungspossen, dazwischen
fassen, in denen sie doch zum ganzen Volk
Ausstattungsstücke in buntem Wechsel
sprechen müssen, sondern dann sollen sie
und in fünfzig Minuten ist es wieder sein
einem ästhetischen Freund, einer ästhetischen
eigener Herr. Die Stärke der Handlung
Freundin einen Brief schreiben. Den wer¬
in diesen Reißern gibt den beispiellosen
den auch wir dann ganz gern lesen. Aber
Erfolg. Daß eine Pantomime sehr unter¬
Parkettplätze bezahlen wir nur noch sehr
haltsam sein kann, haben wir im vorigen