II, Theaterstücke 4, (Anatol, 8), Anatol, Seite 170

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4.9. Anato
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(Quellenangabe ohne Gewähr).
Ausschnitt aus:
4
Anatol in München.
Wer Schnitzler lieb hat, muß diesen Anatol
sehen. Nicht um der ganzen Aufführung willen
bewahre Schon gegen das Dekorative ist eine
ganze Menge einzuwenden; und dann ist ein
ungeschlachter, unkultivierter, höchst ungebühr
lich und lärmend sich verdrängender Max da
statt des mondänen Rationalisten ein dumm¬
dreist lauter Kleinbürger: und in der „Frage
an das Schicksal spreizt sich eine kadelburger¬
liche Tora; und die Spielerin der „Episode“ ist
auch fürs épisodenhafte noch viel zu blaß;
und das Christkind der „Weihnachtseinkäufe
meistert zwar die Kunst eines gepflegten Dia¬
logs, ist aber zu reif und zu kalt, um was
mehr zu geben. Dafür gibt die Woiwode im
„Abschiedssouper ein ansehnliches Quantum
drall naiven Charmes, und die Schaffer (die
jüngst als „Königin Christine in Strindbergs
Komödie ein paar bemerkenswert glückliche
Momente hatte) vermeidet es mit Takt, den
brutal sich offenbarenden, phrasenhaften Rache¬
durst der llona ins Possenhafte zu vergröbern.
Was aber die Aufführung des Schauspiel¬
hauses krönt und alle Mängel zehnfach wett¬
macht, ist Gustav Waldaus Anatol. Schnitzlers
Szenen, so liebenswert sie sind, haben ja doch
mancherlei Staub angesetzt in den achtzehn
Jahren seit ihrem Entstehen. Ihre leichtsinnige
Melancholei geht uns nicht mehr so zu Herzen
wie am ersten Tag; ihre Melodie, so rasch sie
sich ins Blut setzt, so rasch wird sie monoton
und unser Ohr ist so peinlich geschärft für
alles Feuilletonistisch-Aphoristische; und wir
beurteilen die nichtig lichte Menschlichkeit
Anatols heute sehr hart und finden, daß es
dem Nur-Erotiker an spezifischem Gewicht man¬
gelt: denn wir sind viel strenger und grämlicher
geworden in den letzten achtzehn Jahren.
Da kommt nun unser prächtiger Gustav
Waldau und wischt mit leichter Hand dem
Anatol die Runzeln und dem ganzen Werk den
Staub und uns die Bedenken weg; und macht
alles frisch und neu und mit neuer Bedeutung
gefällig. Wie er das anfängt? Er betont
och was ein viel zu derbes Wort für eine so
feinfädige Sache — er ruht also mehr auf den
melancholischen Momenten seiner Rolle aus als auf
den leichtsinnigen. Nicht als ob er nun die liebens¬
werten Lächerlichkeiten Anatols unterdrückte, aber
er gibt einen Menschen, der um seine Richtigkeit
weiß, der, ein Stück von einem Poeten, die allzu
bewußte Leere seines Seins mit lebemännischem
Geländel erfüllt und die armen Tage spielerisch
mit flüchtigen, süßen und bitteren Sentimentali¬
täten bekränzt. Er gibt einen Menschen, der seine
Bedeutungslosigkeit so klar erkennt und mit
so liebenswerten Worten und Gesten kundgibt,
daß der Zuhörer darüber die Beschränktheit
dieser Existenz ganz vergißt. Und hat kein
Gott an seiner Wiege Gaben dargebracht, von
den Grazien ist keine ausgeblieben. Und eine
weiche, linde Müdigkeit liegt über dem allen,
eine nachdenkliche, zarte Fügsamkeit: Herbst¬
sonne. Und ganz fein und leise, ohne daß
der Darsteller plumpe Mittel anwendet, eine
tze oder dergleichen, klingt die Tragik des
Alterns mitherein.
So wird durch Waldaus Gestaltung der
Zyklus zu einer grazil nachdenklichen Dichtung
vom Vergehen, das allem Werden beigemischt
ist, und Anatol selber wird aus einem kul¬
tivierten Alltagsmenschen ein Poet, der das
tief Episodenhafte und Fragmentarische alles
Seins erkannt hat, und der nun die bunten
Lappen/ die er erhascht, zu einem schillernden
Rittergewand zusammenflickt, lächelnd und des
spielerischen Unwerts solchen Treibens wohl
Dr. Lion Feuchtwanger.
bey.