II, Theaterstücke 4, (Anatol, 8), Anatol, Seite 431

4.9. An
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Zyklu-
24 MRZ 1917
Esterreichische Land-Zeitung, Krems

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Theater und Musik.
Stadttheater Krems an der Donau.
Direktion: August Orthaber.
Sonntag, den 14. März 1917: Gastspiel Paula
Dürr, Neue Wiener Bühne, Max Höller, Kurt La¬
batt, Ludwig Pongraz, sämtliche vom Deutschen
Volkstheater in Wien. Künstlerische Leitung Max
Höller. „Anatol", drei Akte von Arthur Schnitzler.
1. Episode, 2. Abschiedssouper, 3. Anatols Hochzeits¬
norgen.
du mein lieber Anatol! Das hättest du dir beileibe nicht
träumen lassen, als du dem Dichterhaupte deines Erzeugers
entsprangest, daß man dich einmal auf dem Theaterzettel als
größten Lacherfolg ausschreien, mithin zu einer Art Schmal¬
figur machen würde. Aber gräme dich deswegen nicht
und trage die Last deines Narrentums zusamt dem Korn Wahr¬
heit, das in der Anpreisung steckt, mit der Würde deines Nicht¬
durchbohrenden Gefühles. Es hat sich eben wieder einmal
bewährt: was kein Verstand der Verständigen sieht, das sieht
im Werbedrang das unentwegt dem Erfolge nachgrübelnde Ge¬
müt eines ringenden Theaterdirektors. Und in der Tat! Es
kommt die nur zugute, daß du zur Heiterkeit Anlaß gibt. Denn
steckte nicht wirklich ein Stück liebenswürdigen Wurstels in
dir, so wärest du, mein Wort darauf, ein ganz unerträglicher
zuwiderer Kerl, über dessen nichtsnutzige Drohnennatur man
alle Ursache hätte, sich weidlich zu ärgern. So aber verzeiht
man die sogar deinen Ehrgeiz, als richtiger Phäakenjüngling
gelten zu wollen, verzeiht dir, daß du den Anspruch darauf
erhebt, dein mit einem Spritzer semitischen Blutes vermischtes
Wienertum als echt anerkannt zu wissen. Nein, Verehrtester!
Dieses dein überqualliges, geschniegeltes und gebügeltes Wie¬
nertum ist unecht. Und wenn man es auch angehen läßt und
allen Splitterrichtern und Moralbonzen zum Trotz, beide Augen
darüber zudrückt, so hast du es lediglich deinem bühnenkundigen
Vater zu verdanken, der deine sittlichen Mängel und bürger¬
lichen Unzulänglichkeiten mit so viel vorsichtiger Komik und
überwältigender Ironie zu verbrämen verstand, daß man dich
nicht bloß duldet, sondern uns dein eigenartig nüchtern drol¬
liges Wesen manchmal sogar wirklich heimisch anmutet. Und
so gehst du denn, teuerster Anatol, durch deine fünf Akte. Sie
machten deinen Namen typisch und krönten damit deine unzäh¬

ligen, die leidende und robotende Menschheit belastenden Gleich¬
artigen. So viele Anatols herumlungern, so viele Ungereimt¬
heiten! Vielleicht aber kuriert euch der Schützengraben und
bringt euch die Zeit der furchtbarsten Völkernot, der gewaltig¬
sten Krafterhebung zum Bewußtsein eures besseren Menschen¬
tumes. Vielleicht, aber nicht wahrscheinlich. Euer Luderleben
wurde zum System und es ist zwar kein Trost, aber Gesetz
es muß auch solche Käuze geben. Vagabunden der Gesinnung
und Liebe, Diebe der Zeit, Strolche des Wohllebens, Popanze
des Geistes und der Gebärde, allesamt geschaffen zur Erheite¬
rung oder Abschreckung, je nach der Sonderartung des eurer
Sippschaft zugehörigen Einzelgeschöpfes. Dein dich an Verstand
und Lebensphilosophie überragender Freund und Berater Max
ist Blut von deinem Blute und Geist von deinem Geiste, nicht
mehr und nicht weniger. So wie er einmal Anatol war, so
wirch du dereinst Max sein. Und deine süßen Mädels, die deiner
verbummelten Existenz Zweck und Endziel bedeuten, gehören so
zu die, wie du zu ihnen. Futter, Futter für Hirn, Rückgrat
und Magen! Eins verzehrt das andere! Es ist ein gegensei¬
tiges, mit Gelächter und Tränen gewürztes Auffressen. Von
den fünf „Anatol“ betitelten Einaktern haben sich zwei, als
die Sittlichkeit allzu gefährdend, nur selten vor das Rampenlicht
gewagt. Die drei anderen, Episode, das Abschiedssouper und
Anatols Hochzeitsmorgen, eroberten sich nachgerade alle besse¬
ren, leistungsfähigen Bühnen. Und zwar mit Recht. Sie sind
besonders sein in der Auffassung, diskret im Humor und triefen
von guter Laune. Ihr Witz ist ein Spiel zwischen Ironie und
Satyre. Die hiesige Aufführung entsprach allen guten Erwar¬
tungen. Ein famoses Zusammenhalten, sowie ein flottes Tempo
zeichnete sie aus. Herrn Kurt Labatts Anatol war eine sehr
anerkennenswerte Leistung von geistvoller Eindringlichkeit. Sie
bezeugte die große Auffassungsfähigkeit und bedeutende Dar¬
stellungskraft des jungen Künstlers. Durch den Max des Herr
Max Höller schlug die ironische Weisheit des welterfahrenen
Freundes und Sündengenossen durch, der nicht bessern, nur be¬
schwichtigen will. Und Paula Dürr, in der Rolle des jewei¬
ligen süßen Mädels, war voller bezwingender Anmut und ent¬
zückend schalkhafter Komik. Selbst ihre geschmackvolle Art, sich
zu kleiden, fiel angenehm auf. Endlich Ludwig Pongraz
als Kellner und Diener! Nie wurden sie eleganter und doch un¬
auffälliger gemimt. Der Beifall des ausverkauften Hauses
überbot den vorweg dem Publikum aufoktroyirten Lacherfolg
Man war des Lobes voll und ging mit dem angenehmen Be¬
wußtsein nachhause, wieder einmal gutes, vollgültiges Theater
gehört zu haben.
Hermine v. Kolloden.